Politik

Von Pflicht und Klarheit Helmut Schmidt privat

Der weiße Vorhang öffnet sich und gibt den Blick auf die Bühne frei. Sofort brandet Applaus im ausverkauften Saal des Berliner Ensembles auf. Claus Kleber erhebt sich, tritt einen Schritt beiseite, um die Ovationen allein dem Mann zukommen zu lassen, der zu seiner Rechten im Stuhl sitzen bleibt und sich den Kopf senkend für den herzlichen Empfang bedankt: Helmut Schmidt.

Es ist sein Abend, es ist sein Publikum. Mit den ersten Worten Schmidts kehrt in die vollbesetzten Reihen eine absolute Ruhe ein, niemand möchte ein Wort des Altkanzlers verpassen. Moderator Kleber spricht aus, was wohl das Publikum in diesem Moment empfindet: „Es ist eine Ehre, hier neben Ihnen zu sitzen.“

Helmut Schmidt fasziniert die Menschen, noch immer. Kein anderer deutscher Politiker genießt eine derart hohe Anerkennung im Volk. Er ist der deutsche Inbegriff des „elder statesman“, wie Kleber es zur Einführung richtig beschreibt. Und am Mittwochabend ist er nach Berlin gekommen, um sein persönliches Vermächtnis vorzustellen.

"Nutzen für Jüngere"

„Außer Dienst“ hat Schmidt sein neuestes und wahrscheinlich letztes Buch betitelt, das er heute von Kleber begleitet präsentiert. Es enthält seine „persönlichen Erfahrungen“, aus denen „vielleicht doch einer von den Jüngeren einen Nutzen ziehen“ könnte, wie der 89-Jährige in seinem Vorwort schreibt. Diese gesammelten Erfahrungen, das zeigen das Buch und der Abend in Berlin, sind eine Reise mit dem Politiker Schmidt durch die Welt, ihre Geschichte und ihren Herausforderungen. Ein Lehrstück in Sachen Politik und politischem Handeln, das auch die Vorstellung im Berliner Ensemble zu einer indirekten Standpauke für die deutsche Politik werden lässt.

Der ehemals „leitende Angestellte“ der Bundesrepublik, wie Schmidt sich selbst betitelt, ist zwar „Außer Dienst“, „eines Tages rausgeworfen“, wie er auf der Bühne mit einem Lächeln erzählt. Doch, um es mit Schmidts Worten zu sagen, verpflichtet fühlt er sich dem öffentlichen Wohl noch immer. Pflichtgefühl gegenüber dem Staat ist sein Leitfaden, schreibt er in seinem Buch. Doch gibt er dort auch sehr persönlich zu, dass sein Antrieb in der Politik ebenfalls der "Ehrgeiz auf Anerkennung" war, sein eigener Geltungsdrang.

Einzigartige Klarheit

Der Altkanzler schafft es dank seiner klaren, direkten Sprache und einer messerscharfen Analyse ohne verblümte Rücksichtnahmen, seine Ansichten zu vermitteln und sie beim Publikum ankommen zu lassen. Von Angela Merkel über Guido Westerwelle bis hin zu Frank-Walter Steinmeier – sie alle ermatten angesichts dieser rhetorischen Fähigkeiten. Einzig bei Finanzminister Peer Steinbrück klingt etwas von dieser Klarheit an.

Auf der Bühne im Berliner Ensemble geht es wie im Buch um das große Ganze. Aktuelle Tagespolitik wird nur am Rande berührt, auch wenn Moderator Kleber immer wieder versucht, dem alten Sozialdemokraten doch noch eine Meinung zu entlocken.

Anfangs ist es seine Partei, die SPD, zu der Schmidt nie ein ganz leichtes Verhältnis hatte. Kleber nimmt mehrere Anläufe, um seinem Gesprächspartner zu entlocken, ob der gestürzte Parteichef Kurt Beck nicht genug Stehvermögen hatte. Dem entzieht sich Schmidt immer wieder aufs Neue, lässt sich schließlich nur zu der Bemerkung herab, er sei „mit dem Ergebnis ganz zufrieden“. Das Publikum lacht zustimmend, auch Kleber lässt es nun gut sein.

Persönliche Fehler

Bevor es dann mit großen Schritten und einzigartiger Klarheit einmal quer durch die Grundzüge deutscher und internationaler Politik gehen kann, weist Kleber noch auf einen besonders persönlichen Teil des Buches hin, den man von Schmidt auch nicht gewohnt ist: Eigene Fehler. Kleber greift das von Schmidt genannte Beispiel heraus, 1974 als Bundeskanzler nach dem Rücktritt Willy Brandts nicht auch den Parteivorsitz übernommen zu haben. Eine gewünschte Parallele zur aktuellen Machtteilung in der SPD. Leider hat Kleber aber nicht ganz genau beim Lesen hingeschaut und übersehen, dass Schmidt es im Nachhinein, trotz seines späteren Sturzes als Kanzler, nicht mehr für einen Fehler hält. Und so kann der 89-Jährige als Antwort das wiedergeben, was er im öffentlichen Gespräch zu gerne tut: Sein Gegenüber belehren und zurechtweisen.

Dabei hätte es noch einen weiteren Fehler in dem Buch gegeben, den Schmidt bis heute bereut: Als Bundeskanzler nicht rechtzeitig die Koalition mit der FDP beendet zu haben, sodass die Liberalen schließlich den Bruch verkünden konnten und ihn damit in Bedrängnis brachten.

Doch bleibt es bei solch kleinen Fehlern. ZDF-Moderator Kleber erweist sich als höchst fähiger und aufmerksamer Begleiter, der es versteht, dem scharfen Analytiker einige seiner Weisheiten zu entlocken.

Aktuelle Herausforderungen

So spricht Schmidt aus, was er für die beiden größten Herausforderungen unserer Zeit hält: Erstens die Überalterung der Gesellschaft, mit allen Folgen für die Finanzierung des Sozialstaats und die Anfälligkeit des Wahlvolks für Populisten. Zweitens die Globalisierung, politisch wie auch wirtschaftlich, was aktuell von der Finanzkrise dramatisch bezeugt wird.

"Raubtierkapitalismus"

Wer dabei in Schmidt nur den Wirtschaftsexperten sieht, mit zu viel Verständnis für die Bedingungen freier Marktwirtschaft, wird an diesem Abend wie auch im Buch eines Besseren belehrt. Denn, daran erinnert Kleber: Helmut Schmidt war es, der den Begriff des "Raubtierkapitalismus" geprägt hat, auf den er stolz ist, wie er sagt. Im Buch widmet er dem Thema ein ganzes Kapitel. Da ist Schmidt ganz Sozialdemokrat, besorgt um den deutschen Wohlfahrtsstaat, der mit scharfer wirtschaftlicher Analyse den internationalen Finanzverkehr unter Kontrolle bringen will. Schmidt schlägt vor, den Internationalen Währungsfonds (IWF) dafür ein Regelwerk ausarbeiten zu lassen, um die zerstörerischen Kräfte des Marktes einzudämmen.

Der weitere Abend ist gleich dem Buch ein rascher Gang durch die Welt. Kritik am Engagement und der Präsenz der NATO in Georgien, ein Plädoyer für die atomare Abrüstung und den Dialog der Religionen, um Konflikte zu verhindern.

Verteidigt Agenda 2010

Mit Blick auf Deutschlands Politik bezieht Schmidt auf der Bühne noch deutlicher als im Buch Stellung zur Agenda 2010: Der richtige Weg, mit technischen und handwerklichen Fehlern, aber noch nicht weit genug. Ein Lob für Schröder und ein Wink an den Kurs der eigenen Partei.

Geprägt bei all seinem Handeln und seinen politischen Überzeugungen, das klingt am Abend an und durchzieht das Buch als roten Faden, ist Schmidt von den Erfahrungen aus der deutschen Geschichte. Auch eigenen "schrecklichen Erfahrungen", die zum Glück der jetzigen Politikergeneration erspart blieben. Ob sie dadurch weicher geworden sind, möchte Schmidt nicht beantworten. "Anders" seien sie eben. Das wird einem mit jedem Satz an diesem Abend vermittelt, der stets wohl gewählt, klar und scharf formuliert ist. Halt ganz anders, als es das Publikum von deutschen Politikern gewohnt ist. Dafür dankt es mit stehendem Applaus.

Helmut Schmidt: "Außer Dienst". Eine Bilanz. Siedler Verlag, 450 Seiten, Hardcover, Euro 22,95 (D).

Quelle: ntv.de

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