Der große Schwund der Parteimitglieder "Im SPD-Ortsverein mit lauter 60-Jährigen"
15.06.2011, 17:23 Uhr
Frank-Walter Steinmeier im Jahr 2007 im SPD-Ortsverein Kirchmöser.
(Foto: picture-alliance/ dpa)
Der Trend ist seit Jahren eindeutig: Den großen Parteien laufen die weg, viele Parteien sind überaltert. Langfristig könnte dies ein großes Problem werden, glaubt der Parteienforscher Niedermayer im Gespräch mit n-tv.de. Bestimmte Bevölkerungsgruppen würden nicht mehr repräsentiert. Allerdings sieht er nicht generell eine Politikverdrossenheit, sondern vielmehr eine Organisationsabstinenz: Wenn man die Welt retten wolle und dann im Ortsverein über die Kommunalverbandsabgabe diskutieren müsse, könnte das doch abschreckend wirken.
n-tv.de: Sie haben gerade die Mitgliederzahlen der deutschen Parteien untersucht. Danach haben außer den Grünen alle Parteien im vergangenen Jahr Mitglieder verloren, CDU und SPD hatten Ende 2010 nur noch knapp über 500.000 Mitglieder. Warum laufen den Parteien die Mitglieder davon?
Oskar Niedermayer: Ich sehe keinen allgemeinen Trend, dass alle Parteien Mitglieder verlieren. Vielmehr sind es die großen Parteien und die Linke, die einen Schwund verzeichnen. Die CDU hat durchgehend seit 2000 jedes Jahr Mitglieder verloren und die SPD sogar seit 1991. Bei den kleinen Parteien sieht es aber ganz anders aus. Die FDP hat zwar im vergangenen Jahr fünf Prozent Mitglieder verloren, aber in den vorhergehenden Jahren nicht. Allein 2009 kamen aufgrund der Bundestagswahl und des guten Wahlergebnisses fast zehn Prozent neue Mitglieder hinzu. Und die Grünen haben in den vergangenen Jahren deutlich zugelegt. 2010 kamen fast zehn Prozent neue Mitglieder hinzu und im Vorjahr waren es sieben Prozent.
Wie erklären Sie sich den Trend bei den großen Parteien?
Der erste Grund ist, dass die großen Parteien heute eine viele größere Konkurrenz haben und sich alle Parteien ein begrenztes Reservoir an Mitgliedern teilen müssen. Wenn man nach sozialer Gerechtigkeit strebt, konnte man das früher nur in der SPD verwirklichen. Heute behauptet die Linke, die einzige Partei der sozialen Gerechtigkeit zu sein, und die Grünen beanspruchen diesen Wert auch für sich.
Und der zweite Grund?

Bürgerinitiativen haben nach wie vor Zulauf.
(Foto: dpa)
Hier spielen die sozialen Wandlungsprozesse, besonders die Erosion von sozialen Milieus, eine große Rolle. Früher war es normal, dass Arbeiterkinder, die mit anderen Arbeiterkindern gespielt haben, später in die Gewerkschaft und auch in die SPD eintraten, weil das eben die Partei war, die die Arbeiter vertrat. Diese Milieus brechen seit einiger Zeit weg und das macht viel aus. Seit Mitte der 70er Jahre finden immer mehr Individualisierungsprozesse in der Gesellschaft statt und die Gruppenbindungen nehmen ab. Außerdem haben die Leute heute viel mehr andere Möglichkeiten, sich politisch zu engagieren, zum Beispiel in Bürgerinitiativen oder bei Attac. Wenn Sie sich heutzutage politisch einbringen wollen, dann machen Sie das mit Protesten und Bürgerinitiativen und nicht, indem Sie einer Partei beitreten.
Das heißt, Sie erkennen keine Parteienverdrossenheit?
Letztlich ist es nur eine ganz kleine Gruppe in der deutschen Bevölkerung, die tatsächlich parteienverdrossen ist und alle Parteien nicht mag. Vielmehr sind viele Deutsche organisationsabstinent. Immer weniger wollen sich in Großorganisationen engagieren und die Ochsentour durch diese Organisationen machen. Deshalb trifft der Mitgliederschwund nicht nur die Parteien, sondern auch die Gewerkschaften. Die Jugend hat einen anderen Begriff von politischer Beteiligung. Wenn sich Jugendliche politisch beteiligen wollen, dann soll es Spaß machen, zeitlich begrenzt sein, man will Ergebnisse sehen, man will sich auch nicht ganz allgemein beteiligen, sondern nur in bestimmten Bereichen. Wenn man die Welt retten will und dann in den SPD-Ortsverein mit lauter 60-Jährigen geht, die über die Kommunalverbandsabgabe diskutieren, ist das schon ein Unterschied.
Die Jugend ist somit nicht deutlich unpolitischer?
So dramatisch ist das politische Interesse nicht zurückgegangen. Es hat schon immer nur eine relativ kleine Gruppe gegeben, die bereit war, die sehr anstrengende Art der politischen Beteiligung in einer Partei auf sich zu nehmen. Das kostet eben Zeit, sehr viel Zeit, und man muss sich mit Dingen beschäftigen, die einen gar nicht interessieren. Und wohl auch deshalb sind eben nur knapp zwei Prozent derjenigen, die es prinzipiell könnten, in Deutschland in einer Partei. Es ist allerdings nicht so, dass die Parteien in Gefahr sind, ihren Mitgliederparteistatus zu verlieren. Wenn man andere Länder betrachtet, stehen die deutschen Parteien gar nicht so schlecht da.

Rund zwei Prozent der Mitglieder der Linkspartei sterben jährlich weg.
(Foto: picture alliance / dpa)
Dennoch hat der Mitgliederschwund auch Auswirkungen auf die Parteien …
Erstens verlieren die Parteien Ressourcen, weil die Mitglieder ja Beiträge zahlen. Damit haben sie immer weniger Geld, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Sie verlieren auch Ressourcen in Form von Wahlkampfhelfern und die Kampagnenfähigkeit geht langfristig zurück. Außerdem wird die gesellschaftliche Anbindung geringer. Das bedeutet, dass die Parteien ihre Fühler, die sie in der Gesellschaft haben, um Veränderungen und Stimmungsschwankungen aufzufangen und möglichst schnell innerparteilich zu bearbeiten, langsam verlieren.
In den Untersuchungen ist auch immer wieder die Überalterung der Parteien ein Thema …
Dass alle Parteien – auch die Grünen - generell sehr viele ältere Mitglieder haben und die Jungen unterrepräsentiert sind, ist in der Tat ein Problem. In der Tendenz könnte es gefährlich werden, wenn über längere Zeit in keiner der Parteien mehr bestimmte Gruppen überhaupt repräsentiert sind, wie beispielsweise Menschen mit geringer Bildung. Wenn Parteien über ihre Mitgliedschaft nicht mehr einen Querschnitt der Bevölkerung abdecken und immer einseitiger werden in ihrer sozialen Ausrichtung.
Sie sprachen von personellen Ressourcen, die die Parteien verlieren. Führt dies nicht gerade auf lokaler Ebene zu großen Problemen?
Bei den beiden großen Parteien ist es noch nicht so das Problem. Aber natürlich: Je weniger Mitglieder man hat, desto weniger potenzielle Amtsträger hat man auch für die verschiedensten Politikebenen. Dann kann es durchaus schwer werden, bei den lokalen Wahlen Leute zu finden, die mitmachen. Die Grünen haben es zum Beispiel in Berlin nicht so einfach gehabt. Trotz ihres Mitgliederzuwachses, mussten sie plötzlich mehr als doppelt so viel Kandidaten wie sonst bei der Abgeordnetenhauswahl aufstellen. Das war nicht leicht.
Immerhin laufen den Grünen noch die Mitglieder zu. Was machen sie anders als die anderen Parteien?

Auch wenn viele Grüne nicht mehr die Jüngsten sind, ziehen sie doch noch junge Mitglieder an.
(Foto: picture alliance / dpa)
Bei den Grünen ist hierfür natürlich der Hype, der schon letztes Jahr in den Umfragen angefangen hat, mitverantwortlich. Dass die Grünen immer besser wurden in den Umfragen und mehr Medienaufmerksamkeit bekamen, schaffte natürlich auch Anreize, der Partei beizutreten. Die Grünen haben generell noch den Vorteil, dass sie noch ein bisschen als unangepasst gelten und dadurch bei den Jüngeren größeren Zuspruch erfahren als die anderen Parteien. Man hat dies auch bei der FDP gesehen: In der Zeit, als sie sich ein etwas jugendlicheres Image gab, hat ihr das unter den Jüngeren einen Mitgliederschub gebracht. Auch bringen Wahlerfolge Leute dazu, Parteien beizutreten.
Und wenn die nicht eintreten?
Dann muss man sich etwas anderes einfallen lassen. Es gibt eine ganze Reihe Versuche, Leute an die Parteien heranzuführen, indem man die Barrieren stark abbaut und sagt: 'Guckt Euch das erstmal an, macht projektbezogen mit, Ihr braucht am Anfang auch nicht zu bezahlen.' So wie die jüngste SPD-Organisationreform. Da steht natürlich auch dahinter, dass man Mitglieder gewinnen möchte.
In der SPD regt sich aber Unmut, dass auch Nicht-Mitglieder über bestimmte Fragen entscheiden sollen. Verschreckt die Reform nicht auch viele Mitglieder?

Die Generalsekretärin der SPD, Andrea Nahles, will auch Nichtmitglieder für die Partei interessieren.
(Foto: dpa)
Ja, natürlich. Das ist ja die Gratwanderung, die man machen muss. Einerseits ist es so, dass Leute, die sich zwar engagieren, aber nicht gleich Mitglied werden wollen, relativ schnell abschrecken lassen, wenn sie merken, dass ihr Engagement folgenlos ist. Wenn sie das Gefühl haben: 'Das ist eine demokratische Spielwiese und hänge meine Zeit rein, und es passiert nichts.' Also muss man einen Anreiz schaffen, indem sie irgendwo auch mitentscheiden können. Gleichzeitig wertet man dadurch natürlich die Parteimitgliederrolle ab. Deshalb habe ich vorgeschlagen, einen zweistufigen Entscheidungsprozess einzuführen, in dem die Nichtmitglieder nur in der ersten Stufe teilnehmen können und die Letztentscheidung den Mitgliedern vorbehalten bleibt.
Wäre das auch ein Weg für die anderen Parteien?
Die Union scheint die Entwicklung im Moment noch sehr abwartend zu verfolgen und guckt erst mal, ob die SPD damit auf die Nase fällt. Aber ich denke, wenn man es richtig macht, ist es ein guter Weg und für die Parteien sehr wichtig, um neue Mitglieder zu gewinnen.
Jenseits der organisatorischen Reformen: Wie können die Parteien noch Mitglieder gewinnen?

Prof. Dr. Oskar Niedermayer arbeitet als Parteienforscher an der FU Berlin.
Das Problem bei den großen Parteien sind die Inhalte. Da die Volksparteien ja eine heterogene Gruppe von Leuten bedienen müssen, um groß zu sein und zu bleiben, können sie nicht ein eindeutig auf die Interessen einer Gruppe ausgerichtetes Politikangebot machen. Die SPD und die Union müssen so viele unterschiedliche Interessen vertreten in ihrer politischen Ansprache, dass sie immer eine Gratwanderung machen. Gehen sie ein bisschen mehr zur einen Seite, verlieren sie an der anderen Seite und umgekehrt. Das ist ein Problem, was bei den großen Parteien nicht lösbar ist. Die kleinen Parteien können natürlich viel besser ein maßgeschneidertes Politikangebot für eine bestimmte Gruppe in der Gesellschaft anbieten.
Muss man nicht einfach sagen: Die Zeit der großen Mitgliederparteien ist beendet?
Da gibt es zurzeit ein große Debatte. Die Parteien haben das eindeutig beantwortet und gesagt: Wir wollen auf Mitglieder nicht verzichten. Ich glaube auch, dass die Mitglieder viel zu viele Funktionen für die Parteien und die Gesellschaft haben, als dass man sagen könnte, man betrachtet das ganze positiv, der Mitgliederschwund ist überhaupt nichts Schlimmes und die Parteien sollen sich zu Fraktionsparteien oder professionalisierten Wählerparteien entwickeln. Mitglieder sind und bleiben für die Parteien äußerst wichtig. Aber letztlich ist gerade beiden großen Parteien noch nicht wirklich abzusehen, ob der Mitgliederschwund irgendwann einmal zum Stillstand kommt.
mit Oskar Niedermayer sprach Gudula Hörr
Quelle: ntv.de