
Tausende Menschen aus Marokko gelangen in die spanische Exklave Ceuta, obwohl die Grenze massiv gesichert ist. Mittlerweile ist klar: Marokkanische Grenzer ließen die Migranten gewähren. Dahinter könnte eine zynisch anmutende Strategie stecken.
Die Bilder waren eindrucksvoll: Zu Tausenden schwimmen die meist jungen Männer aus Marokko an einem Zaun vorbei und schleppen sich entkräftet auf den spanischen Strand - wo sie schon von Grenzern erwartet werden, die auf sie eindreschen und manche von ihnen gleich wieder ins Meer treiben. Die Migranten durchschwammen nicht das Mittelmeer, sondern landeten in Ceuta an, neben Melilla einer von Spaniens beiden Städten an der nordafrikanischen Küste.
Dass plötzlich so viele Migranten auf einmal den Versuch wagten, auf spanisches Territorium zu gelangen, war nicht unbedingt überraschend. Immer wieder mal gab es in den vergangenen Jahren solche Aktionen. Das Kalkül: Wenn man es zu Hunderten oder gar Tausenden probiert, werden die Grenzbeamten nicht alle aufhalten können. Und sobald man es geschafft hat, besteht Anspruch auf ein ordentliches Asylverfahren. Zumindest in der Theorie. Denn überaus zügig hat Spanien eigenen Angaben zufolge weit mehr als die Hälfte der 8000 Ankömmlinge schon wieder abgeschoben.
Also alles wie immer? Nicht ganz: In den vergangenen Jahren versuchten die Migranten meist, den bis zu zwölf Meter hohen Zaun zu überwinden, der nicht nur Spanien von Marokko abschirmen soll, sondern auch die EU von ganz Afrika. Diesmal aber schwammen die Flüchtlinge einfach um eine Landzunge herum. "Einfach" bezieht sich weniger auf die körperliche Herausforderung, denn immerhin handelte es sich um eine zwei Kilometer lange Strecke, sondern um den fehlenden Einsatz der marokkanischen Behörden. Wie die erschöpften Ankömmlinge zu Protokoll gaben, hätten diese sie nicht nur gewähren lassen, sondern sogar aufgefordert, auf die spanische Seite des Zauns zu schwimmen. Genau das ist das Neue an dem komplizierten Verhältnis beider Länder.
Im Streit geht es gar nicht um Flüchtlinge
Diplomatisch gesprochen könnte man sagen, Marokko setzte den Flüchtlingsstrom strategisch ein. Einfacher formuliert: Flüchtlinge werden zur Waffe in einem größeren Konflikt - die Behörden ließen sie gewähren, um den Spanier Probleme zu bereiten. Wie bereits berichtet, gibt es gerade mal wieder Streit zwischen Madrid und Rabat. Konkret geht es darum, dass der Anführer der Unabhängigkeitsbewegung, Braham Ghali, in der Region Westsahara in Spanien ärztlich behandelt wird. Da aber Marokko das Gebiet seit Jahrzehnten für sich beansprucht, empfindet man das als feindlichen Akt.
Da stellen die Tausenden Männer und Frauen, die aus ganz Afrika in Marokko auf eine Chance hoffen, nach Spanien und damit in die EU zu kommen, offenbar ein willkommenes politisches Faustpfand dar. Spätestens seit 2015, als Millionen Menschen aus Syrien und anderen Ländern nach Europa flohen, hat die Flüchtlingsfrage in der EU höchste Priorität. Sobald die Lage in welcher Hinsicht auch immer eskaliert, drohen die Regierungen in eine Zwickmühle zu geraten: Denn einerseits trägt man hehre, humanitäre Ansprüche vor sich her. Andererseits ist bei großen Teilen der Menschen in Europa der Elan erlahmt, Menschen aus fernen Ländern aufzunehmen. Kurzum: Politiker haben bei dem Thema wenig zu gewinnen und viel zu verlieren.
Es ist nicht das erste Mal, dass ein Land Flüchtlinge auf diese Weise gewähren lässt. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan machte dies 2019 vor, als er Tausende Migranten aus der Türkei auf die griechische Insel Lesbos vorstoßen ließ. Drei Wochen lang blieb die Grenze offen, sogleich füllten sich auf EU-Seite die Flüchtlingslager, eine humanitäre Krise bahnte sich an. Kanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der britische Premier Boris Johnson mussten gemeinsam intervenieren und stellten Erdogan mehr Geld für die Millionen in der Türkei lebenden Flüchtlinge aus Syrien in Aussicht. Am nächsten Tag war die Grenze wieder dicht. Offizielle Begründung: die Corona-Krise.
Machtwort aus Brüssel
Auch in Marokko sind die Behörden wieder dazu übergegangen, illegale Grenzübertritte zu verhindern. Wie die spanische Zeitung "El País" berichtet, lag das auch daran, dass die EU-Kommission ein Machtwort sprach. Die Kommissarin für Inneres, Ylva Johannson, hatte darauf hingewiesen, dass die spanische Grenze auch EU-Grenze sei und Rabat aufgefordert, eingegangene Grenzverpflichtungen einzuhalten. Demnach muss Marokko aktiv illegale Grenzübertritte verhindern und Menschen zurücknehmen, die dabei erwischt werden. An diesem Mittwoch legte der Vizepräsident der EU-Kommission, Margaritis Schinas, nach: Europa lasse sich von niemandem "einschüchtern" und werde "kein Opfer solcher Taktiken sein", sagte er im spanischen Radio. Bereits in der Vergangenheit habe es Versuche von Drittländern gegeben, die Migrationsfrage gegenüber der EU zu "instrumentalisieren". Dies sei nicht hinnehmbar.
Hilfreich dürfte aber auch gewesen sein, dass Spanien deutlich gemacht hat, dass die Behandlung von Rebellenführer Ghali nicht als Unterstützung gewertet werden sollte. Denn gegen ihn wurde ein Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit wieder aufgenommen. Es geht um Folter und Morde. Der kündigte daraufhin an, Spanien in Richtung Algerien verlassen zu wollen. Und so lenkte das Königreich Marokko also erstmal ein.
Auch wenn die Grenze nun wieder kontrolliert wird, ändert das nichts an dem Konflikt, um den es eigentlich geht: den Streit um die Westsahara. Der schwelt bereits seit Jahrzehnten, seit sich Marokko das Gebiet einverleibte, das damals noch spanische Kolonie war. In einer heute legendären Aktion besetzten Hunderttausende Marokkaner 1975 friedlich das Land. Letztlich zog die spanische Armee ab, ohne dass es zu Gewalt kam.
Anschließend blieb die Gegend aber ein Unruheherd, weil sich eine Unabhängigkeitsbewegung formierte und viele Staaten die Inbesitznahme nicht anerkannten. Heute überwacht eine UN-Mission einen mittlerweile geltenden Waffenstillstand. International erkennen rund 50 Staaten den Staat Westsahara an. Nicht aber die USA, die unter Donald Trump die Westsahara zu marokkanischem Gebiet erklärten. Dazu rang sich der scheidende Präsident Ende des vergangenen Jahres durch, weil das Königreich im Gegenzug diplomatische Beziehungen zu Israel aufnahm. Auch zwischen Marokko und Deutschland rumort es deswegen hörbar. Erst vor knapp zwei Wochen hatte das Land seine Botschafterin aus Berlin abberufen. Nicht zuletzt, weil Deutschland die Westsahara ebenfalls nicht als Teil Marokkos sieht, sondern als besetztes Gebiet.
Quelle: ntv.de