Interview mit Paul Nolte "In der Mitte geht die Post ab"
21.07.2009, 10:07 UhrWas ist von Schwarz-Gelb zu erwarten, warum ist Schwarz-Rot für die Union vielleicht attraktiver und warum wäre zwischen Grünen und CDU leicht ein Konsens beim Wachstumsbegriff zu erreichen? Antworten von Paul Nolte.

Paul Nolte lehrt Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der FU Berlin und ist Herausgeber der Zeitschrift "Geschichte und Gesellschaft". Seit April dieses Jahres ist er Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland.
n-tv.de: Was sagen Sie zur Arbeit der Großen Koalition: Haben Union und SPD in den vergangenen vier Jahren Ihre Erwartungen erfüllt, enttäuscht oder übertroffen?
Paul Nolte: Übertroffen sicherlich nicht, ich würde sagen, halbwegs mit Anstand erfüllt. In den ersten zwei Dritteln der Legislaturperiode war ich doch eher enttäuscht, weil mir die Linie gefehlt hat. Das würde ich auch von einer neuen Regierung erwarten, dass sie nicht nur verwaltet und an Kompromissen strickt, sondern sich ein klares Ziel setzt. Im letzten Drittel der Regierungszeit waren die Bedingungen anders. Unter dem Eindruck der wirtschaftlichen Krise hat die Regierung gute Arbeit geleistet und vor allem eines geschafft: das Vertrauen der Bevölkerung zu bewahren.
Vor vier Jahren haben Sie geschrieben, die SPD werde es in der Großen Koalition wohl am schwersten haben. Das ist eingetroffen. Wie beurteilen Sie den derzeitigen Zustand der Partei?
Der Zustand der SPD ist kurz vor hoffnungslos. Es wurden schon so viele Optionen durchgespielt, dass man kaum mehr sieht, wohin sich die SPD noch retten kann. Ich muss allerdings sagen - auch wenn ich damit gegen den Trend spreche -, dass ich nach wie vor eine hohe Meinung von Steinmeier habe, auch wenn er offenbar starke kommunikative Defizite hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine SPD, die sich nach einer möglicherweise gravierend verlorenen Bundestagswahl in Richtung Wowereit und Nahles neu aufstellt, wieder an die 35 Prozent zurückkommt. Das wäre eine Festlegung, mit der die SPD keine neuen Wählerschichten erschließen würde. In der Mitte geht ja offenbar die Post ab, und gerade dort kann die SPD nicht mehr mitspielen: In der Mitte ist die CDU, in der Mitte sind immer stärker auch die Grünen, in der Mitte ist eine wieder erstarkte FDP. Die Sozialdemokraten müssen sich ihren Platz dort neu suchen.
Aber hat der Zustand der SPD nicht auch mit dem Niedergang der Volksparteien insgesamt zu tun? Sollte sich die Union mit Blick auf die SPD nicht lieber Schadenfreude verkneifen, weil sie da nur ihre eigene Zukunft sieht?
Ja, natürlich. Ich habe schon vor vier Jahren bei der Kommentierung des damaligen Wahlergebnisses gesagt, die CDU sollte weder schadenfroh noch allzu traurig sein, denn an 45 Prozent lässt sich ohnehin nicht mehr anknüpfen. Beide Volksparteien sind vor vier Jahren zu Drittelparteien geworden, zu Parteien, die jeweils nur ein gutes Drittel der Wähler mobilisieren können. Bei der Union ist vielleicht noch etwas Luft nach oben, bei der SPD ist es seit 2005 dagegen noch weiter nach unten gegangen. In jedem Fall ist die Transformation des Parteiensystems in vollem Gange. Wir haben es zwar nicht mit einem ruckartigen Zusammenbruch zu tun wie seinerzeit in Italien. Aber es ist doch eine viel stärkere Transformation, als wir lange wahr haben wollten.
Ein richtiger Lagerwahlkampf will derzeit nicht aufkommen. Woran liegt das?
Für das schwarz-gelbe Lager gilt das weniger, wenngleich die Union - vom Schaden von 2005 klug geworden - mit angezogener Handbremse fährt und sich auch andere Optionen offenhält. Für die Union ist eine Fortsetzung der Großen Koalition mit einer geschwächten SPD vielleicht attraktiver, als mit einer nervigen, durch die lange Oppositionszeit heiß gewordenen FDP regieren zu müssen. Zudem würde die Union mit der FDP die Mehrheit im Bundesrat verlieren. Auf der anderen Seite, bei SPD und Grünen, gibt es natürlich noch weniger Lagerwahlkampf; rot-grüne Hoffnungen gibt es nicht mehr, für die SPD geht es nur in die Große Koalition oder in die Opposition, denn ein Ampelbündnis ist ja genauso unrealistisch wie eine rot-rot-grüne Koalition.
Was wäre von einer schwarz-gelben Regierung zu erwarten? Würden wir die neoliberale Kanzlerin erleben, die im Wahlkampf 2005 von der SPD an die Wand gemalt wurde?
Ich glaube, das weiß man bei der Union selbst noch nicht so genau. Ich bin überzeugt, dass es für die Union und für Angela Merkel kein Zurück in die Zeit vor 2005 gibt. Die Stimmungslage hat sich verändert, das stramm neoliberale Programm des Leipziger Parteitags passt nicht mehr in die Zeit. Insofern glaube ich auch nicht, dass Angela Merkel sich jetzt verstellt. Sie hat dazugelernt. In einer schwarz-gelben Koalition würde sich ihr Profil nicht sehr von dem unterscheiden, was wir in den letzten vier Jahren gesehen haben. Natürlich, bei den Sozialsystemen würde man in Nuancen anders operieren, bei der Gesundheitsreform etwa oder der Alterssicherung. Im Grundduktus der Regierungsarbeit sehe ich unter Schwarz-Gelb jedoch keinen radikalen Umschwung auf uns zukommen. Es fehlt eben auch eine klare Ansage, wie sie es 1982 gab, als man eine "Wende" machen wollte, damals vielleicht mit etwas überzogenem Tamtam. Die "geistig-moralische Wende" ist dann ja auch nicht eingetreten, aber es gab zumindest eine klare Vorstellung, was diese neue Regierung nach 13 Jahren sozialliberaler Koalition machen wollte. Ähnlich war es 1969 und 1998. Die Situation jetzt ist ganz anders. Es fehlt der Zeitgeist, der einer neuen Regierung die Segel bläht.

Sie würde es gerne machen, darf es aber nicht sagen: Renate Künast mit Angela Merkel.
(Foto: picture-alliance/ dpa/dpaweb)
Sie haben 2005 gesagt, der Konservativismus habe bis heute kein vernünftiges Verhältnis zur ökologischen Bewegung gefunden. Gilt das noch?
Programmatisch und in der praktischen Politik hat sich da natürlich einiges geändert. Es gibt neue Schnittmengen, die sich uns allen aufdrängen: dass man angesichts des Klimawandels und Energieunsicherheit technologische Innovation, wirtschaftliche Dynamisierung und ein ökologisches Programm nur noch zusammen denken kann. Bei Angela Merkel ist da auch von ihrer physikalischen Herkunft her durchaus Potenzial vorhanden. Aber in der Union insgesamt ist das noch immer viel zu wenig verankert.
Wie bewerten Sie die Grünen? Von Union und FDP wird ihnen zwar vorgeworfen, einen "Linksruck" vollzogen zu haben. Aber nach dem Abgang von Joschka Fischer haben sie sich doch erstaunlich schnell gefangen.
Diesen Linksruck kann ich nicht erkennen. Sie haben sich gefangen, weil sie weniger als manche vielleicht geglaubt haben von Fischer abhängig waren. Die Wähler der Grünen kommen aus einem breiten bürgerlichen Milieu. Dort sind gar nicht mal unbedingt rational begründbare, aber gefühlte grüne Sympathien stark verankert. Mit einem Joschka Fischer hat das nicht so viel zu tun. Die grüne Wählerschaft schätzt eher die breite Aufstellung über verschiedene Personen wie Trittin, Künast und andere.
Wäre das unterschiedliche Verhältnis zum Wachstum eine unüberwindliche Hürde für Schwarz-Grün?
Das ist sicher eine überwindliche Hürde. Zum einen haben die Grünen ihre ganz große Furcht vor dem Wachstumsbegriff abgelegt. Aber vielleicht ist da auch eine neue Debatte nötig. Der Bundespräsident hat vor einiger Zeit vehemente Kritik am Wachstumsbegriff geäußert. Ich denke, wir müssen dringend über den Zusammenhang von Wachstum und Innovation nachdenken. Rein quantitatives Wachstum wird uns nicht weiterführen. Wir brauchen nicht noch mehr Autos und noch mehr von diesen oder jenen Produkten. Trotzdem sind wir von Wachstum abhängig, weil Innovation und Veränderung mit Wachstum zu tun haben. Wenn wir neue Motoren erfinden oder mehr Migranten besser qualifizieren, dann ist das Wachstum. Über diese qualitative Wachstumskomponente ist eine neue Diskussion fällig. Dort wäre ein Konsens zwischen Schwarz und Grün nicht schwer zu finden.
Halten Sie Schwarz-Grün nach der Bundestagswahl für möglich?
Nach der Bundestagswahl wird es die arithmetische Notwendigkeit nicht geben. Wenn es nicht für Schwarz-Gelb reicht, wird die Union die Große Koalition fortsetzen. Sie hat nicht schlecht genug funktioniert, und das persönliche Verhältnis ist in Berlin nicht so zerstört worden wie jetzt in Kiel. Grundsätzlich, glaube ich, ist die Bereitschaft, sich auf Schwarz-Grün einzulassen, durchaus vorhanden, in der CDU wohl noch stärker als bei den Grünen. Dort gibt es die, die es wirklich nicht wollen, und dazu würde ich Trittin zählen, und es gibt die, die es gerne machen würden, es aber nicht sagen dürfen. Dazu zählt Renate Künast.
Mit Paul Nolte sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de