
Schröder und Manuela Schwesig im Sommer 2021. Damals förderte auch Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin noch Nord Stream 2.
(Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild)
Gerhard Schröder bleibt wegen seiner Nähe zu Wladimir Putin und russischen Staatskonzernen umstritten. Zugleich ist der frühere Kanzler der letzte namhafte Westeuropäer mit direktem Draht in den Kreml. Im Interview mit "Stern" und RTL/ntv spricht er ausführlich über seine jüngste Moskau-Reise und analysiert die seiner Meinung nach ausschlaggebenden Gründe für die gedrosselten Gaslieferungen. Doch manche Äußerung bedarf der Einordnung - auch weil sich Schröder als Vermittler in einem Konflikt anbietet, in dem er viel Verständnis für den Aggressor zeigt.
1. "Die gute Nachricht heißt: Der Kreml will eine Verhandlungslösung."
Muss sich jemand freuen, dass Putin die Ukraine angeblich doch nicht unbedingt ausradieren will, anders als dessen Freund Dmitri Medwedew? Auch aufseiten der Ukraine und ihrer NATO-Verbündeten hat niemand bestritten, dass der Krieg mit Verhandlungen enden wird - so oder so. Schließlich wird zu einem nicht absehbaren Zeitpunkt verabredet werden müssen, wie es zwischen beiden Ländern weitergeht, wenn die Waffen erst einmal schweigen. Offiziell haben Wladimir Putin und sein Außenministerium seit Wochen deutlich gemacht, dass sie zwar bereit sind, über ein Ende des Konflikts zu sprechen - aber eben nur zu ihren Bedingungen. Das ist der "Diktatfrieden", den Bundeskanzler Olaf Scholz ablehnt, und zu dem auch die ukrainische Regierung nicht legitimiert wäre. Nach allen verfügbaren Informationen erwartet die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung von Präsident Wolodymyr Selenskyj, dass die Zehntausenden Toten und noch mehr Verletzten sowie das gigantische Ausmaß der Zerstörung nicht ungesühnt bleiben, Russland also am Ende keinen 'Nettogewinn' aus diesem Krieg ziehen darf.
2. "Es gab ja schon einen Verhandlungsansatz (...), etwa in Istanbul im März."
Was Anfang März verhandelt worden ist und wie nahe beide Seiten an einer Waffenstillstandsvereinbarung waren, ist umstritten. Tatsache ist, dass die ukrainische Seite diese Verhandlungen unter dem Eindruck einer unmittelbar drohenden Niederlage aufgenommen hatte, ehe sich das militärische Blatt unerwartet wendete: Die Ukrainer konnten die russischen Streitkräfte um Kiew zurückschlagen und sie zu einem vollständigen Rückzug aus dem Norden des Landes zwingen. Damit änderten sich die Kräfteverhältnisse am Verhandlungstisch: Selenskyj war nicht länger gezwungen, auf jede russische Forderung einzugehen. Zumal die Bilder der von Russen massakrierten Zivilisten im Vorort Butscha die ukrainische Entschlossenheit zum Widerstand gegen die Invasion noch gestärkt haben. Eine Verhandlungslösung war also nur in Reichweite, solange Russland am eindeutig längeren Hebel saß und die Bedingungen weitgehend diktieren konnte. Dass sich Kiew seither nicht mehr zur Kapitulation genötigt sieht und eigene Bedingungen stellen will, ist dem angegriffenen Land nicht vorzuwerfen.
3. Russland verfolge einen legitimen Anspruch auf die Krim
Schröder nennt den Streit um die Krim das "relevante Problem", welches dem Krieg zugrunde liege. Die ukrainischen Rückeroberungspläne seien "absurd", zumal Sowjet-Führer Chruschtschow der Ukraine die Halbinsel seinerzeit geschenkt habe in der Annahme, die Ukraine bleibe ewig Teil der UdSSR. Russland hat die Ukraine aber nicht überfallen, um einen drohenden Angriff auf die Krim abzuwehren. Derartige Pläne hat es damals nach allem, was bekannt ist, nicht gegeben. Jetzt will Kiew mit seinen Drohungen der Rückeroberung die Halbinsel nicht schon abschreiben, bevor es überhaupt zu Verhandlungen gekommen ist. Schröder erwähnt zudem mit keinem Wort, dass die gewaltsame Krim-Annexion einen schweren Bruch des Völkerrechts bedeutete. Russland hat die territoriale Integrität der Ukraine einschließlich der Krim in diversen Verträgen anerkannt. Staatsgrenzen gewaltsam unter Verweis auf historische Ansprüche neu zu ziehen, ist ein Tabubruch, der zu einem Flächenbrand führt, wenn andere Staaten diesem Beispiel folgen - zumal Moskau nach dieser Logik jederzeit Anspruch auf weitere Territorien anderer Staaten erheben könnte.
4. "Die Ukrainer haben die Zweisprachigkeit im Donbass (...) abgeschafft."
Auch wenn Schröder damit die russische Invasion unweigerlich relativiert, ganz falsch ist die Behauptung nicht. Seit den Maidan-Protesten hat sich in weiten Teilen der ukrainischen Gesellschaft die Ablehnung gegen ständige russische Einmischung in innerukrainische Angelegenheiten verstärkt, erst recht nach der gewaltsamen Krim-Annexion und dem Beginn des Donbass-Krieges 2014. In einem ersten Schritt wurden russischsprachige Medien in der Ukraine eingeschränkt, auch um den Einfluss russischer Propaganda zu reduzieren. Ein Gesetz aus der Zeit des von Russland unterstützen Präsidenten Wiktor Janukowitsch, mit dem Russisch im Osten zur zweiten offiziellen Sprache erhoben wurde, wurde revidiert. Ukrainisch sollte ab der 5. Klasse zur Hauptunterrichtssprache werden und Behörden, Polizisten und Ärzte mussten die Menschen grundsätzlich auf Ukrainisch anreden, wenn nicht anders gewünscht. Der mit dem Russischen aufgewachsene Selenskyj sah diese Gesetze zum Teil kritisch und hatte die Ukrainisierung der Sprache nach Amtsantritt nicht weiter vorangetrieben - bis zum russischen Angriff im Februar. Die russischen Zaren und die Sowjetunion haben die ukrainische Sprache und Kultur ihrerseits stets bekämpft. Putin bestreitet bis heute, dass die Ukrainer überhaupt ein Recht auf eigene Staatlichkeit hätten, wie er sie für die russischsprachigen Ukrainer im Donbass fordert.
5. "Ich halte diesen Krieg für einen Fehler der russischen Regierung. (...) Aber ich muss deswegen nicht ständig den Empörer spielen, das können andere tun."
Die Formulierung lässt aufhorchen. Schröder sagt nicht, dass der Angriff falsch war, sondern ein "Fehler" - also so etwas wie ein Versehen, eine Übertreibung oder eine strategische Fehleinschätzung. Die Invasion war aber moralisch falsch und völkerrechtswidrig. Weder Russland noch die russischsprachigen Ukrainer im Donbass waren an Leib und Leben bedroht, als Putin die Invasion der Ukraine anordnete. Er und die direkt beteiligten russischen Führungseliten sind moralisch und rechtlich verantwortlich für den Tod Zehntausender Russen und Ukrainer sowie für das Leid unzähliger Menschen. Wer sich darüber empört, "spielt" das nicht, sondern bringt ein Moral- und Rechtsempfinden zum Ausdruck, das Grundlage unseres Grundgesetzes und des gesellschaftlichen Zusammenlebens in einer Demokratie ist. Dass ein ehemaliger Bundeskanzler diese Normen und Werte derart als Theater abtut, muss irritieren.
6. "Es gibt in Russland wirkliche Einkreisungsängste, die aus der Geschichte gespeist sind."
Es ist mühselig, zu streiten, ob der Westen mit einer anderen Politik Putin einhegen und Russland in eine westliche Sicherheitsarchitektur hätte einbinden können. Fakt ist: Die Installation des US-Raketenabwehrschilds in Osteuropa und völkerrechtswidrige Invasionen wie der zweite Irakkrieg haben eine Annäherung zwischen NATO und Russland erschwert und die westliche Staatenwelt moralisch diskreditiert. Fakt ist aber auch nach überstimmender Einschätzung fast aller (westlichen) Russland-Experten: Putins Propaganda-Apparat hat die "Einkreisungsängste" mit aller Macht befeuert und Furcht vor einem westlichen Angriff geschürt, um die russische Bevölkerung auf Linie zu bringen und den Widerstand gegen den Abbau von Demokratie und Rechtsstaat zu brechen. Wenn sich Russen heute von der NATO bedroht fühlen, ist das vor allem Ergebnis dieser Propaganda.
7. "Das liegt in der Verantwortung von Siemens, wenn ich das richtig sehe."
Gazprom erklärt den niedrigen Durchfluss an Gas durch Nord Stream 1 mit einer fehlenden Turbine für eine Verdichterstation, die nach ihrer Wartung in Kanada noch immer nicht zurück in Russland ist. Die Bundesregierung hatte sich intensiv dafür eingesetzt, dass Kanada eigene Sanktionen ignoriert und die Turbine zugunsten der deutschen Energiesicherheit zurückschickt - ebenso weitere, künftig zu wartende Turbinen. Nun hängt die Turbine in Deutschland fest, weil laut Siemens Energy die Import-Anordnung aus Russland fehlt. Gazprom hatte seinerseits erklärt, aus den kanadischen Unterlagen ergäben sich noch offene Fragen zum Zustand der gewarteten Turbine. Es ist schlicht nicht plausibel, warum die Auslieferung an der Bundesregierung oder Siemens Energy scheitern sollte, wo Deutschland gerade dringend seine Gasspeicher voll bekommen muss. Warum Russland auch in einer Notlage die - unbestritten vorhandene - Reserveturbine nicht einsetzen will und ob eine weitere Turbine tatsächlich defekt ist, wie von Schröder berichtet, ist ebenso unklar. Schröder kann die Fakten selbst nicht überprüfen, sondern gibt die russischen Behauptungen wieder - ohne mögliche Zweifel am Wahrheitsgehalt zu äußern.
8. "Am Ende der Ära von Frau Merkel war unsere Abhängigkeit deutlich höher."
Ein klassischer Schröder: nicht falsch, aber dennoch dreist. So sehr Angela Merkel Verantwortung trägt für Deutschlands falsche, weil abhängig machende Energiepolitik, so sehr war Schröder nach seinem Abschied ins Privatleben daran beteiligt. Der unmittelbar nach seiner Kanzlerschaft zu Nord Stream gewechselte Hannoveraner hatte mithilfe seiner SPD-Verbindungen sowie direkten Drähten ins Kanzleramt den Bau von Nord Stream 2 vorangetrieben und war Teil jener russisch-deutschen Netzwerke, die auf den Verkauf deutscher Gasspeicher an Gazprom und der schrittweisen Übernahme der PCK-Ölraffinerie in Schwedt durch Rosneft - wo Schröder im Aufsichtsrat saß - hingewirkt haben. Schröders Verweis zeigt aber vielleicht auch, wie ungerecht sich der von seiner eigenen Partei verfemte Ex-Kanzler von der Öffentlichkeit behandelt fühlt.
(Dieser Artikel wurde am Mittwoch, 03. August 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de