Morgen wählen die Türken Islamisten vorn
02.11.2002, 00:03 UhrSelten hat Europa so gebannt auf Parlamentswahlen in der Türkei geblickt. Das Land am Bosporus drängt auf Aufnahme in die Europäische Union, insofern hat das Ergebnis des Urnengangs am Sonntag auch Konsequenzen für das Ausland.
Glaubt man den Umfragen, so steht bereits fest, dass sich zwei Parteien die Macht im Parlament teilen werden: Die islamisch-konservative Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei AKP und die sozialdemokratische Republikanische Volkspartei (CHP). Selbst eine absolute Mehrheit für die AKP scheint nicht ausgeschlossen.
Denkzettel für die bisherige Regierung
Einen empfindlichen Denkzettel dürften die 41 Millionen Wahlberechtigten den bisherigen Regierungsparteien verpassen. Die Dreierkoalition war während der wochenlangen Krankheit des Ministerpräsidenten Bülent Ecevit im Frühsommer zunehmend handlungsunfähig geworden, weil sich die Partner nicht auf eine einheitliche Europapolitik einigen konnten.
Ecevits Weigerung, aus gesundheitlichen Gründen zurückzutreten, führte Anfang Juli zum Austritt von fast 60 Parlamentariern aus der Partei des Ministerpräsidenten. Die vorgezogenen Neuwahlen wurden auf den 3. November festgesetzt.
Die Unzufriedenheit der Wähler mit Ecevits Sozialdemokraten (DSP), der EU-freundlichen konservativen Mutterlandspartei (ANAP) und der nationalistischen MHP liegt allerdings weniger in der EU-Politik der Koalition als vielmehr in der schweren Wirtschaftskrise begründet, die Hunderttausende Türken in Arbeitslosigkeit und Armut gestürzt hat.
Traditionsparteien könnten samt und sonders scheitern
Vor allem die Traditionsparteien könnten an der 10-Prozent-Hürde, die vor dem Parlamentseinzug liegt, scheitern, schätzen einige Beobachter. Die größten Chancen auf den Einzug ins Abgeordnetenhaus werden noch der nationalistisch-populistischen Jungen Partei (GP) und der konservative Partei des Rechten Weges (DYP) der früheren Ministerpräsidentin Tansu Ciller eingeräumt.
Nach Einschätzung von EU-Diplomaten in Ankara dürfte der EU eine Regierung aus gemäßigten Islamisten nicht unrecht sein. Voraussetzung ist allerdings, dass die Islamisten bei ihrem gemäßigten Kurs bleiben. Ansonsten könnte der türkische Beitritt ins europäische Staatengefüge gefährdet sein.
Widerstand gegen AKP-Chef Erdogan
Der Türkei droht mit der AKP jedoch ein innenpolitischer Kampf, denn der erste Versuch mit den Religiösen ist den Wählern noch zu gut in Erinnerung. Das Experiment endete vor fünf Jahren damit, dass das Militär den damaligen Regierungschef Necmettin Erbekan aus dem Amt schob. Der jetzige AKP-Führer Recep Tayyip Erdogan ist Ziehsohn des damals Verdrängten.
Ihm schlägt denn auch das Misstrauen derer entgegen, die das Credo des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk bewahren wollen: Die Trennung von Staat und Religion. Erschwerend kommt für die AKP hinzu, dass Erdogan selbst nicht kandidieren darf. Der ehemalige Bürgermeister von Istanbul hat eine Vorstrafe wegen Volksverhetzung und darf deshalb weder Abgeordneter im Parlament noch Ministerpräsident werden. Außerdem hat die türkische Generalstaatsanwaltschaft ein Parteienverbot gegen die AKP beantragt.
Quelle: ntv.de