Ohne Gewalt ist der Maidan nicht mehr zu räumen Janukowitsch wankt, doch er weicht nicht
03.02.2014, 10:07 Uhr
Auch Janukowitsch Sicherheitsapparat wankt - doch weichen wird er vorerst nicht.
(Foto: AP)
Seit mehr als zehn Wochen harren die erbittertsten Gegner von Präsident Janukowitsch auf dem Unabhängigkeitsplatz aus. Die beiden Seiten sind mittlerweile so ineinander verkeilt, dass an eine rasche Lösung nicht mehr zu denken ist.
Es ist ein bisschen wärmer geworden an diesem Montagmorgen in Kiew. Minus zwölf Grad zeigt das Thermometer an - für die abgehärteten Regierungsgegner sind das fast schon frühlingshafte Verhältnisse. Die Proteste auf dem Maidan gehen mittlerweile in die elfte Woche. Und Janukowitsch? Wankt, doch er weicht nicht.
Erneut haben einige hundert Demonstranten auf dem Unabhängigkeitsplatz übernachtet. An den offenen Feuerstellen vor den Zelten wärmen sie sich, Tee wird gekocht. Freiwillig e verteilen belegte Brote, die in einer der fliegenden Küchen zubereitet worden sind.
Andrej, ein Student, der seit den ersten Tagen im November hier dabei ist, sagt: "Janukowitsch verweigert sich noch immer der Realität. Er hat den Ernst der Lage nicht begriffen. Ein paar Zugeständnisse reichen nicht mehr." Michail, ein Mechaniker aus Iwano-Frankowsk ergänzt: "Er meint es nicht ehrlich. Die Rücknahme von ein paar Gesetzen und der Rücktritt der Regierung - das sind taktische Manöver, um an der Macht zu bleiben. Und zeitgleich wird Dimitri Bulatow tagelang verhört und misshandelt. Den Maidan räumen? Nein. Wenn wir das jetzt tun, haben wir gar nichts erreicht."
Ohne Gewalt ist das Areal nicht mehr zu räumen
Den Maidan haben sie inzwischen zur Festung ausgebaut. Längst ist er viel größer als die Ausmaße des eigentlichen "Platzes der Unabhängigkeit". Der Kreschatik, die Flaniermeile der ukrainischen Hauptstadt und ihre Nebenstraßen links und rechts gehören dazu. Die Grenzen des riesigen Areals bilden bis zu drei Meter hohe Barrikaden, errichtet aus Holz, Sandsäcken, mit Wasser übergossenen und so zu Eis gefrorenen Plastik-Tüten mit Schnee und allem anderen, was irgendwie zur Hand ist. Nur durch schmale Zugänge können Passanten die Barrikaden passieren.
Die Botschaft: Wir nehmen unser Schicksal in die eigene Hand und werden hier nicht weichen, bis Janukowitsch geht, und den Weg frei macht für Neuwahlen. Ohne Gewalt ist das Areal nicht mehr zu räumen.
Einen knappen Kilometer weiter am Dinamo-Stadion stehen sie sich weiter Aug in Aug gegenüber - Maidan-Aktivisten und Sondereinheiten der Polizei. Vor knapp zwei Wochen feuerten hier Scharfschützen in die Menge, es gab mehrere Tote. An den folgenden Tagen und Nächten brannten die Barrikaden. Die Bilder aus Kiew wirkten wie aus einem Krieg.
Jetzt gibt es eine Sicherheitszone von 50 Metern zwischen beiden Seiten. Auf den Schnee der letzten Tage wird auch hier immer wieder Wasser gegossen, das in wenigen Minuten zu Eis gefriert. Es ist eine spiegelglatte Fläche, die neue Zusammenstöße verhindern soll.
Nach der blutigen Eskalation in der vorletzten Woche, die die Ukraine an den Rand eines Bürgerkrieges versetzt hat, verharrt Kiew nun seit Tagen in einem Patt zwischen Präsident Viktor Janukowitsch und der Opposition um Vitali Klitschko. Auch die Tatsache, dass Janukowitsch übers Wochenende ins Krankenhaus musste und Klitschko am Rande der Sicherheitskonferenz in München von Politiker der westlichen Welt empfangen wurde, vermochte daran wenig zu ändern.
Wie kann das Patt überwunden werden?
Sollen die Maidan-Aktivisten Bürgerwehren bilden, um sich gegen einen drohenden Ausnahmezustand zu wehren? Am Freitag hatte ein Berater des russischen Präsidenten Putin, der immer noch seinen schützenden Arm über Janukowitsch hält, eine gewaltsame Niederschlagung der Proteste gefordert. Zeitgleich meldete sich erstmals die ukrainische Armee-Führung zu Wort. Sie forderte Janukowitsch auf, alles zu tun, um wieder Herr der Lage zu werden.
Seit Tagen wird als Ausweg aus dem Patt eine Rückkehr zur Verfassung von 2004 diskutiert. Auch Vitali Klitschko, der weiterhin für eine gewaltfreie Lösung wirbt, macht sich inzwischen dafür stark. Mit der Rückkehr zur alten Verfassung würden die Vollmachten des Präsidenten geschwächt und die der Regierung gestärkt. Die Opposition könnte dann vielleicht doch, wie bereits von Janukowitsch angeboten, das deutlich aufgewertete Amt des Premierministers übernehmen. Es wäre dann auch kein vergiftetes Angebot mehr, sondern würde den Weg freimachen, möglichst schnell Neuwahlen auszuschreiben. Bis dahin könnte Janukowitsch ohne Gesichtsverlust als weitgehend zahnloser Tiger im Amt bleiben, Klitschko und Konsorten würden jedoch de facto die Tagespolitik bestimmen.
Doch wenn diese Variante eine Chance haben soll, ist internationale Vermittlung erforderlich - sowohl des Westens, der die Opposition unterstützt, als auch Russlands, das weiter zu Janukowitsch steht. Alleine bekommen die beiden verfeindeten Seiten das nicht mehr hin - das Misstrauen ist einfach zu groß.
Solange eine Lösung nicht in Sicht ist, werden sie bleiben und ausharren - auf dem Maidan und in den Seitenstraßen. Auch eine zwölfte und dreizehnte Woche, wenn notwendig.
Quelle: ntv.de