Berliner Rede Köhler für "Agenda 2020"
17.06.2008, 15:18 UhrBundespräsident Horst Köhler hat die demokratische Praxis in Deutschland kritisiert und eine Änderung des Wahlrechts gefordert. "Wer unsere politische Ordnung studiert hat, will sie verändern", sagte Köhler in seiner dritten Berliner Rede. Die Verantwortlichkeiten müssten gestrafft, die Macht der Parteien begrenzt und der Einfluss der Bürger vergrößert werden. Köhler forderte zugleich, die Reformpolitik mit einer "Agenda 2020" fortzusetzen und die Steuerlast für Durchschnittsverdiener zu senken.
Die Rede wurde mit großem Beifall aufgenommen und drei Mal von Applaus unterbrochen. CSU-Chef Erwin Huber sagte in München: "Die heutige Berliner Rede hat erneut gezeigt: Horst Köhler ist der richtige Bundespräsident für unser Land." Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) begrüßte insbesondere Köhlers Mahnung an Wirtschaft und Manager, ihrer Verantwortung gerecht zu werden.
Der Berliner Wirtschaftsenator Harald Wolf (Linke) sprach dagegen von einer "sehr ambivalenten Rede". So begrüße er zwar die Forderung, Bildung und Integration zu stärken, könne das Lob für Agenda 2010 aber überhaupt nicht teilen, sagte Wolf. Auch der Versuch Köhlers, die Ausweitung des Niedriglohnsektors als Errungenschaft zu verkaufen, sei sehr enttäuschend.
Köhler äußerte vor 250 Gästen im Schloss Bellevue Verständnis für die wachsende Politikverdrossenheit. Viele Bürger klagten, dass die Politik zu sehr von Partei- und Machtinteressen geprägt sei. Die Verfahren seien langwierig, die Ergebnisse oft halbherzig und nachbesserungsbedürftig. Offenbar habe die Politik in Deutschland mehr Mühe als in anderen europäischen Demokratien, klare Richtungsentscheidungen zu treffen.
"Politikverdrossenheit ernst nehmen"
"Auf diese Verdrossenheit lässt sich einiges erwidern, doch vor allem will sie ernst genommen sein", mahnte Köhler. Dazu sei es nötig, die Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Kommunen zu entflechten und den "alles durchdringende Parteienwettbewerb" zu begrenzen. Zudem seien neue Abstimmungsregeln für den Bundesrat zu überlegen, um Arbeit der Länderkammer zu vereinfachen. Grundsätzlich gelte: "Die Machtverhältnisse sind doch kein Selbstzweck!"
Konkret forderte das Staatsoberhaupt, das Wahlrecht zu ändern, so dass die Wähler mehr Einfluss auf die Wahllisten der Parteien bekämen. Um den herrschenden "Dauerwahlkampf" zu beenden, plädierte er dafür, die Wahlperiode auch im Bund auf fünf Jahre zu verlängern. Beide Vorschläge sind in mehreren Bundesländern bereits umgesetzt worden. Zuletzt hat auch Hamburg auf Wahlkreisebene das System des Kumulierens und Panaschierens eingeführt, also der Stimmenhäufung und Stimmenverteilung auf mehrere Kandidaten.
"Steuerbelastung zunehmend unfair"
Vier Wochen nach der Ankündigung seiner Kandidatur für eine zweite Amtszeit nutzte Köhler die Rede zu einer breiten Positionsbestimmung. Der 65-Jährige plädierte erneut für die Fortschreibung der Reformpolitik, die der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder unter dem Namen "Agenda 2010" eingeleitet hatte. Deutschland habe viel erreicht, dies dürfe jetzt nicht zerredet oder gar zurückgedreht werden, warnte er. "Dafür brauchen wir eine Agenda 2020."
Für den Mittelstand forderte das Staatsoberhaupt eine deutliche Entlastung von Steuern und Abgaben. Die Steuerbelastung vor allem für Durchschnittsverdiener wirke zunehmend unfair, kritisierte er. "Inzwischen müssen schon Facharbeiterfamilien sehr schnell Steuersätze zahlen, die früher nur für Reiche galten." All dies drücke auf die Steuermoral und den Leistungswillen.
Damit stellte sich Köhler indirekt an die Seite der CSU, die Anfang Mai als erste Koalitionspartei ein Steuerentlastungskonzept vorgestellt hatte, das aber bei Bundeskanzlerin Angela Merkel und der SPD auf Widerstand stößt.
"Vollbeschäftigung möglich"
Köhler plädierte zugleich dafür, die sozialen Sicherungssysteme stärker durch Steuern zu finanzieren und den Arbeitsmarkt weiter zu flexibilisieren. Dies sei wichtig für Vollbeschäftigung, die er für erreichbar halte. Der Bundespräsident bezeichnete Arbeit, Bildung und Integration als zentrale Ziele für Deutschland. Die Chancen für mehr Arbeit seien auch dank der Globalisierung "grandios".
Köhler hatte am 22. Mai bekanntgegeben, dass er sich 2009 für eine zweite Amtszeit bewirbt. Kurz darauf nominierte die SPD die Politologin Gesine Schwan als Gegenkandidatin. Die Berliner Rede war deshalb mit besonderer Spannung erwartet worden.
Quelle: ntv.de