Politik

Mehr-Fronten-Konflikt droht Kommen Kriegsflüchtlinge aus Nahost bald nach Europa?

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Hunderttausende Menschen sind bislang aus dem Norden des Gazastreifens in den Süden geflohen.

Hunderttausende Menschen sind bislang aus dem Norden des Gazastreifens in den Süden geflohen.

(Foto: picture alliance / NurPhoto)

Angesichts der blutigen Eskalation in Nahost fragen sich manche Politiker und Kommentatoren in Deutschland, ob nun mit einer neuen Fluchtbewegung nach Europa zu rechnen ist. Die seit einigen Tagen laufende Debatte dazu lässt allerdings einige Aspekte, wie etwa die Interessen Ägyptens, außer Acht. Hier die wichtigsten Fragen und Antworten:

Wie läuft die Debatte in Deutschland ab?

Obwohl die Ankunft von Flüchtlingen konkret noch nicht ansteht, haben sich bereits Politiker mehrerer Parteien ablehnend geäußert. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sagte der "Rheinischen Post", bei der humanitären Versorgung der Menschen aus Gaza "und einer möglichen Aufnahme von Migranten sind die arabischen Nachbarstaaten in der Region verantwortlich, Vorbereitungen zu treffen". Eine Migrationsbewegung nach Deutschland müsse dagegen vermieden werden.

SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert sagte Anfang der Woche, Ägypten solle alles tun, "was eine Öffnung des Grenzübergangs und die Aufnahme von Zivilbevölkerung auch auf ägyptischem Territorium möglich macht". Es gebe "keine Notwendigkeit", Menschen, die aus dem Gaza-Streifen nach Ägypten fliehen, in Deutschland aufzunehmen.

AfD-Fraktionschefin Alice Weidel forderte "von dem Kanzleramt eine klare Ansage, dass Deutschland keine Migranten aus Gaza und aus dem Nahen Osten mehr aufnehmen wird".

Die Grünen-Innenpolitikerin Misbah Khan warnt: "Hass und Unsicherheiten sind das politische Kapital der AfD; sie versteht es nahezu perfekt, diese für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren." Rechte schürten daher Ängste vor Fluchtbewegungen, verbreiten antisemitische Narrative und befeuerten den Hass auf Muslime und Ausländer.

Ist eine Massenflucht nach Ägypten wahrscheinlich?

Bisher nicht. Denn Ägypten will den Grenzübergang Rafah zwar öffnen, um Hilfslieferungen in den Gazastreifen zu ermöglichen. Verhandelt wird auch darüber, ob Menschen, die eine andere Staatsbürgerschaft haben, über Ägypten ausreisen dürfen. Die Aufnahme von möglicherweise Hunderttausenden Palästinensern aus dem dicht besiedelten Gebiet in Ägypten lehnt Präsident Abel Fattah al-Sisi aber strikt ab.

Al-Sisi argumentiert erstens mit Sicherheitsrisiken für sein Land, sollten militante Palästinenser die ägyptische Sinai-Halbinsel zum Ausgangspunkt für Angriffe auf Israel machen. Zweitens warnt er mit Blick auf frühere Fluchtbewegungen von Palästinensern in den Nahost-Kriegen vor einer "Vertreibung". Das heißt, er befürchtet, man könnte diese Menschen später an einer Rückkehr hindern. Auch viele Bewohner des Gazastreifens sind Menschen, deren Familien vor 1948 in anderen Teilen des früheren Mandatsgebiets Palästina lebten.

Was ist mit Jordanien?

Dort stellen Menschen palästinensischer Herkunft bereits einen Großteil der Bevölkerung. Zudem hat das Königreich Flüchtlinge aus dem Irak und aus Syrien aufgenommen. Die Bereitschaft, weitere Flüchtlinge unterzubringen, ist daher gering. Bei einem Treffen mit Bundeskanzler Scholz zog der jordanische König Abdullah II. eine rote Linie: Eine weitere Aufnahme von geflüchteten Palästinensern werde es nicht geben.

Wie viele Menschen könnten sich auf den Weg machen?

Das hängt davon ab, welchen Umfang die israelischen Angriffe im Gazastreifen haben werden, die eine Reaktion auf den Terrorangriff der islamistischen Hamas am 7. Oktober sind. Einige Beobachter befürchten, die vom Iran unterstützte libanesische Hisbollah-Miliz könnte Kriegspartei werden. Das könnte langfristig Fluchtbewegungen von Libanesen und von Flüchtlingen, die im Libanon leben - sowohl Palästinenser als auch Syrer - nach Europa verstärken. Denn das Land befindet sich ohnehin in einer schweren Wirtschaftskrise. Außerdem ist nicht auszuschließen, dass es in weiteren arabischen Staaten zu einer Destabilisierung infolge von Massenprotesten kommt.

"Wenn es zu einem Mehr-Fronten-Krieg kommen sollte, ist natürlich mit erhöhten Fluchtbewegungen aus der Region zu rechnen", sagt der Vorsitzende des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR), Hans Vorländer. Dann wäre das UN-Flüchtlingshilfswerk gefragt, Lösungen für eine vorübergehende Aufnahme dieser Menschen zu finden.

Was könnte - beziehungsweise sollte - Deutschland in so einem Fall tun?

Aktuell versucht die Bundesregierung, gemeinsam mit anderen westlichen Akteuren einen solchen Flächenbrand zu verhindern. Sollte es zu einer großen Fluchtbewegung kommen, könnte aber auch an Europa die Aufforderung gerichtet werden, Kontingente aufzunehmen, meint Vorländer. Der SVR-Experte vermutet: "Die ablehnende Haltung einiger deutscher Politiker der Union, AfD und SPD, die ich aktuell wahrnehme, würde sich dann nicht halten lassen." Es müsste in so einem Fall aber eine faire Verteilung innerhalb der Europäischen Union gewährleistet sein.

Fakt sei aber auch, "die Aufnahmebereitschaft tendiert auch in der Bevölkerung derzeit gegen null". Das liege daran, dass es in den Kommunen jetzt schon Probleme bei der Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen gebe, aber auch an Kundgebungen pro-palästinensischer Gruppierungen in den vergangenen Tagen.

Quelle: ntv.de, rog/dpa

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