Kanzlermehrheit für RenteMerz schrammt an Katastrophe vorbei
Ein Kommentar von Volker Petersen
Deutschland sichert das Rentenniveau bis 2031 bei 48 Prozent. Das ist die eine Nachricht des Tages. Die andere: Kanzler Merz kann erst einmal weiterregieren. An einer Katastrophe schrammt er vorbei, doch Schrammen bleiben.
So wie die Sache jetzt ausgegangen ist, muss man von einem Erfolg sprechen. Union und SPD haben gemeinsam das Rentenpaket beschlossen, mit eigener Mehrheit und waren daher nicht auf die Hilfe der Linken angewiesen. Die hatte sich wie angekündigt enthalten. Doch da die CDU/CSU und SPD 318 Ja-Stimmen zusammenbrachten, war das für die Verabschiedung gar nicht nötig. 318 Ja-Stimmen, das bedeutete drei Stimmen mehr als notwendig gewesen wären, selbst wenn die Linke wie AfD und Grüne mit Nein gestimmt hätte.
Zwei überm Durst: Das ist auch nicht viel, aber es ist ein bisschen wie nach einem knappen Sieg im Fußball. Gewonnen ist gewonnen. Zumindest für den Moment. Unionsfraktionschef Jens Spahn wirkte nach der Abstimmung nicht wie ein Sieger, eher erschöpft. Wie jemand, der es gerade so noch einmal geschafft hat. So ist auch die Stimmung in der Fraktion: Noch so ein Ding möchte niemand erleben.
Dieses "Ding", das sind die vergangenen Wochen und Monate, in denen sich der Konflikt um die Rente mehr und mehr zuspitzte. Spahn kündigte eine "Manöverkritik" an, um aufzuarbeiten, wie man es besser machen kann. Was ihm da vorschwebt, dazu wollte er jetzt noch nichts sagen. Das Grundgefühl ist jedenfalls: So weit hätte es gar nicht erst kommen dürfen. Die Unionsfraktion und mit ihr die schwarz-rote Koalition war an diesem Freitag an einem Punkt gelandet, an dem sie fast nur noch verlieren konnte. Das stellt Fragen an die politische Führung, nicht nur an Spahn, sondern auch an Kanzler Friedrich Merz.
Kann Merz die Lager zusammenhalten?
Der CDU-Chef Merz kann nun durchatmen. Die Woche hat ihr bestmögliches Ende genommen. Erst am Donnerstag hatte er noch einmal den Einsatz erhöht und die eigene Kanzlermehrheit gefordert, also die Mehrheit der Sitze des Bundestages. Da sich die Linke wie angekündigt enthielt, hätten auch deutlich weniger Stimmen für eine Annahme des Gesetzentwurfs gereicht. Aber das hätte die Union und mit ihr die Koalition in eine Krise gestürzt. Regieren von Gnaden der Linken, so sieht für Christdemokraten die Hölle aus. Die eigene Mehrheit nicht beisammenhaben, wäre einfach nur peinlich gewesen. So war es folgerichtig, dass Merz die eigene Mehrheit noch einmal postulierte.
Doch wie Spahn geht auch Merz angeschlagen aus diesem Gesetzgebungsverfahren heraus. Die Zweifel an seiner Fähigkeit, das eigene Lager und den Koalitionspartner zusammenzuhalten, wachsen. Natürlich hat er es nicht leicht. Die SPD kämpft gegen einen sich verstetigenden Bedeutungsverlust und ist nur begrenzt kompromissbereit, insbesondere bei Kernthemen wie der Rente. Die gemeinsame Mehrheit ist schmal, nur zwölf Stimmen. In so einer Konstellationen können einzelne, gut organisierte Parlamentariergruppen ungeahnte Macht entfalten. Aber Merz fuhr einen Zickzackkurs, schien sich mal an die Seite der Jungen Gruppe zu stellen, mal sie zur Ordnung zu rufen. So wie auf dem Deutschlandtag der Jungen Union, was sich nachträglich als Fiasko erwies.
Die Junge Gruppe und die Junge Union können sich nun als Sieger betrachten. Sie haben die Muskeln spielen lassen und dafür gesorgt, dass die Rentenkommission schon bis Mitte nächsten Jahres Vorschläge machen soll. Sie haben eine breite Debatte angestoßen. Es ist kaum vorstellbar, dass die Union noch einmal einer verlängerten Haltelinie beim Rentenniveau zustimmt. Die Jungen haben großen Druck aufgebaut, tatsächlich eine bahnbrechende Rentenreform zu schmieden. Nebenbei haben sie sich unheimlich bekannt gemacht. Als Machtfaktor sind sie nicht mehr wegzudenken.
Gewinner: Die Linke
Sie haben außerdem gerade noch Staatsräson bewiesen, indem ein Teil von ihnen sich doch noch erweichen ließ, zuzustimmen. Wäre das Gesetz gescheitert, hätte das das Ende der Koalition bedeuten können. Das war es nicht wert und damit können sich die Rebellen trösten - auch wenn sie gegen ihre Überzeugungen gestimmt haben, wie sie in Extra-Erklärungen ausführlich darlegten.
Auf die Schulter klopfen können sich auch Heidi Reichinnek und die Linken-Fraktion. Ihre Enthaltung war ein kluger Schachzug. Plötzlich bestimmten sie die Debatte, konnten sich als Retter der Rente inszenieren und demütigten im Vorbeigehen die Union - paradoxerweise, indem sie es ihr leichter machten, das Rentenpaket anzunehmen. Die wütenden Reaktionen der Grünen im Bundestagsplenum waren der beste Beweis, dass die Linken auch der unmittelbaren Konkurrenz ein bisschen Biobutter vom Vollkornbrot stibitzt hatten.
Es war ein denkwürdiger Tag für die Koalition und Friedrich Merz. Schon das dritte Mal kam es zu einer nervenzerfetzenden Abstimmungssituation - nach der Kanzlerwahl mit zwei Wahlgängen und nach der abgesetzten Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf ans Bundesverfassungsgericht. CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann betonte nach der Abstimmung, diese Koalition habe bisher alles umgesetzt, was sie sich vorgenommen hat. Das stimmt sogar. In vielen Fällen auch einigermaßen souverän und geräuschlos. Doch drei High-Noon-Momente in den ersten sechs Monaten sind sehr viel. Und so geht die Koalition mit denkbar gereiztem Nervenkostüm aus dem Jahr, bevor 2026 noch mehr und noch schwierigere Entscheidungen anstehen.
Korrektur: Zunächst hatte das Bundestagspräsidium 319 Ja-Stimmen verkündet, später wurde die Zahl auf 318 korrigiert.