Politik

Produktion wird hochgefahren Ukraine braucht "kriegstaugliche Mengen" Munition

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Ein Arbeiter inspiziert eine glühende 155-mm-Artilleriegranate in einer amerikanischen Militärfabrik.

(Foto: REUTERS)

Die Ukraine hat ein Nachschubproblem. Im Verteidigungskampf gegen Russland verbrauchen Kiews Truppen mehr Munition als der Westen derzeit produziert. Militärexperten und Politiker fordern, die Rüstungsfirmen mit langfristigen Verträgen auszustatten. Trotz hochkomplexer Produktionsabläufe könnte der Westen Russland dann sogar ausstechen.

Der Ukraine geht bei der Verteidigung des eigenen Landes die Munition aus. Davor warnt Kiew selbst, aber auch westliche Politiker und Militärexperten haben das Thema auf dem Schirm. Im November hat ein US-Regierungsvertreter von 4000 bis 7000 Artillerieschüssen pro Tag gesprochen, die die Ukraine abfeuert.

Das ist deutlich weniger als Russland, obwohl auch Moskaus Truppen einen starken Rückgang zu verzeichnen haben. "Auf dem Höhepunkt der russischen Offensivoperationen im Donbass im Mai, Juni und Juli haben wir einen Verbrauch an russischer Artilleriemunition von bis zu 60.000 Schuss am Tag angenommen", hat Brigadegeneral Christian Freuding Anfang des Monats im ntv-Interview gesagt. "Bei den aktuellen Operationen verbrauchen die Russen noch ungefähr 20.000 Schuss Artilleriemunition pro Tag." Immer noch etwa viermal so viel wie die ukrainischen Truppen.

"Müssen Produktion hochfahren"

Die Ukraine verbraucht viel mehr Munition, als die Verbündeten produzieren. So habe sich beispielsweise die Wartezeit für großkalibrige Munition von 12 auf 28 Monate erhöht, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zuletzt beim NATO-Verteidigungsministertreffen. "Wir müssen die Produktion deutlich hochfahren und in unsere Produktionskapazitäten investieren", forderte Stoltenberg.

Die USA haben inzwischen bereits mehrere Rüstungsaufträge für die Produktion von Artilleriegeschossen vergeben. Die Rüstungsunternehmen General Dynamics Ordnance & Tactical Systems und American Ordnance unterzeichneten einen fast eine Milliarde US-Dollar schweren Vertrag mit der US-Armee, der die Produktion von monatlich bis zu 20.000 Schuss zusätzlicher Geschosse für die Ukraine vorsieht.

Parallel produzieren noch zwei weitere amerikanische Rüstungsfirmen, Northrop Grumman Systems und Global Military Products, Artilleriemunition für die ukrainische Armee. Das Gesamtvolumen dieses Vertrags liegt bei knapp über einer halben Milliarde US-Dollar.

Neue Gepard-Munition aus Deutschland

Munitionslieferungen werden auch in Deutschland diskutiert. Das Thema sei lange zu wenig beachtet worden, kritisierte Verteidigungsminister Boris Pistorius Mitte des Monats vor dem NATO-Verteidigungsministertreffen. "Die große Herausforderung in den nächsten Monaten ist es, den Luftraum nicht an die russische Luftwaffe zu verlieren und die Angriffe auf die kritische Infrastruktur nicht hinnehmen zu müssen." Es sei richtig und notwendig, dass dieses Thema jetzt an Fahrt gewinnt, so Pistorius.

Die Bundesregierung spreche momentan mit der Rüstungsindustrie darüber, wie die Produktion auch in Deutschland deutlich hochgefahren werden könne. Das gelte für alle Munitionsarten, sagte der Verteidigungsminister.

Immerhin wurde mit Rheinmetall bereits ein Vertrag unterschrieben. Der Düsseldorfer Rüstungskonzern soll Munition für den Flugabwehrpanzer Gepard herstellen. "Die Produktion wird unverzüglich anlaufen. Ich bin sehr froh darüber, dass das gelungen ist, weil das die Unabhängigkeit und die schnellere Belieferung noch einmal besser sicherstellt. Der Gepard leistet vor allem bei der Drohnenabwehr herausragende Dienste und wird von den ukrainischen Soldatinnen und Soldaten sehr geschätzt", sagte Pistorius.

"Kanonenrohre können bersten"

Artilleriemunition herzustellen, ist kompliziert. Die Geschosse müssen alle "vollkommen identisch" sein, beschreibt der italienische Militärexperte Thomas C. Theiner bei Twitter. "Ist die Granate zu dick, bleibt sie im Lauf stecken. Ist sie zu dünn, blasen die Gase an ihr vorbei und die Granate erreicht ihr Ziel nicht". Ladungen und Sprengstoff sind laut Militärexperte Theiner sogar noch der einfachere Teil bei der Munitionsproduktion. Der schwierigste Part seien die Zünder. Vor allem dann, wenn es sich um Zünder mit eingebauten Radar handelt. "Das ist noch viel komplexer", erklärt Theiner. Außerdem sollte in allen Granaten gleich viel Sprengstoff sein, damit die Schützen das Ziel bestmöglich ins Visier nehmen und zerstören können.

"Von den Maßen her muss die Munition passen, sonst ist sie nicht abschussfähig. Sie würde die Kanonenrohre verstopfen und das kann gegebenenfalls zum Bersten der Rohre führen", warnt Rafael Loss, Experte für Sicherheits- und Verteidigungspolitik am European Council for Foreign Relations, im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".

Erschwerend hinzu kommt das Problem, dass selbst eigentlich passende Munition nicht in allen Fällen verwendet werden darf. "Wenn zum Beispiel ein französisches 155 Millimeter Artilleriegeschoss in eine Panzerhaubitze 2000 gesteckt wird, heißt das nicht, dass die das auch ohne Weiteres verschießen darf, wenn sie nicht dafür zertifiziert ist. Ansonsten drohen schnellere Abnutzungserscheinungen", warnt Loss im Podcast.

Westen nutzt Potenzial nicht

Bevor die Rüstungshersteller anfangen, Munition zu produzieren, brauchen sie aber zunächst die entsprechenden Aufträge vom Staat. Keine westliche Rüstungsfirma werde ohne staatliche Garantien investieren, warnt Theiner. Er fordert, dass die Regierungen Großbestellungen für mehrere Jahre aufgeben. Es brauche endlich "kriegstaugliche Produktionsmengen".

Genügend Potenzial gebe es eigentlich. Wenn man die Produktionskapazitäten im Westen optimal ausnutze, könne Russland "um den Faktor 20 zu 1 ausgestochen" werden, schreibt der Militärexperte.

"Die NATO-Staaten haben über die vergangenen 20 bis 30 Jahre hinweg die Rüstungsindustrie abgebaut. Man sah sich nicht konfrontiert mit der Bedrohung großer Kriege, schon gar nicht in Europa", erklärt Militärexperte Loss bei "Wieder was gelernt". Die Industrie habe das Problem, dass Produktionskapazitäten wegen vermeintlich geringer Kriegsgefahr reduziert wurden. "In der unmittelbaren Antwort auf den Krieg in der Ukraine und die Zeitenwende hat man festgestellt, dass gewisse Vorprodukte zum Teil gar nicht zur Verfügung stehen."

"Anreiz, den Krieg fortzusetzen"

Auch Carlo Masala, Militärexperte von der Bundeswehr Universität München, nimmt das Munitionsproblem im ntv-Interview in den Blick. Es gehe aber nicht nur um Quantität, sondern auch um Qualität. "Die Russische Föderation setzt sehr stark auf Quantität, arbeitet mit Menschenwellen und schmeißt massenweise Panzer an die Front, auch wenn es alte sind. Dem muss der Westen mit Qualität begegnen."

Für Masala ist das Thema Munition eine der entscheidenden Kriegsfragen. Die Waffenlieferungen würden nichts bringen, sollten irgendwann die Munitionsdepots leergefegt sein.

Noch werden an vielen Orten in der Welt Lagerbestände aufgebraucht und sie der Ukraine zur Verfügung gestellt. Aber das ist keine Dauerlösung, bestätigt Sicherheitsexperte Nico Lange bei ntv. "Es ist gut, dass es Partner gibt, die immer noch Lagerbestände haben, die für die Ukraine genutzt werden können. Aber, wenn das aufgebraucht ist, dann geht es um Produktionskapazitäten. Rechnet sich Putin dann aus, dass er langfristig mehr Munition für die Artillerie produziert, als es die Unterstützer der Ukraine tun, dann hat er einen Anreiz, den Krieg weiter fortzusetzen."

Bürokratie hilft im Krieg nicht

Die Munitionsproduktion drastisch ausweiten? Das würde das Signal senden, dass Putin diesen Krieg nicht gewinnen kann, sagt Nico Lange. Und es würde das "drängendste Problem" der ukrainischen Streitkräfte lösen. "Leider werden diese Entscheidungen immer zu langsam und zu spät getroffen. Mit den langwierigen bürokratischen Methoden des Friedensbetriebes lassen sich Krise und Krieg nicht bewältigen."

Die Munitionsverträge der Amerikaner und das Rheinmetall-Abkommen in Deutschland für die Produktion der Gepard-Geschosse sind der erste Schritt. Bereits im März soll die erste frisch produzierte Munition aus den Vereinigten Staaten in die Ukraine geliefert werden. Aus Deutschland sollen 300.000 Schuss ab Juli in die Ukraine geschickt werden, berichtet die Süddeutsche Zeitung. Bislang musste die Ukraine beim Gepard demnach mit 60.000 Schuss auskommen, von denen sie bis Januar bereits die Hälfte verbraucht hat.

"Wieder was gelernt"-Podcast

"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein bisschen schlauer.

Alle Folgen finden Sie in der ntv App, bei RTL+ Musik, Apple Podcasts und Spotify. "Wieder was gelernt" ist auch bei Amazon Music und Google Podcasts verfügbar. Für alle anderen Podcast-Apps können Sie den RSS-Feed verwenden.

Quelle: ntv.de

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