Der Kriegstag im Überblick NATO prüft Explosion in Polen - Ukraine erlebt heftigsten Beschuss seit Kriegsbeginn
15.11.2022, 22:03 Uhr
Die NATO will Berichte über die Explosion im Polen prüfen.
(Foto: picture alliance / ANP)
Eine Welle russischer Luftangriffe erschüttert die Ukraine. Aufgrund des massiven Beschusses sind zeitweise sieben Millionen Haushalte ohne Strom. Auch in Polen kommt es zu einer Explosion. Moskau dementiert, dafür verantwortlich zu sein, die NATO will die Vorwürfe prüfen. Der 265. Kriegstag im Überblick.
Berichte: Russische Raketen in Polen eingeschlagen
In einem polnischen Ort nahe der Grenze zur Ukraine sind bei einer Explosion auf einem landwirtschaftlichen Betrieb zwei Menschen ums Leben gekommen. Der Hörfunk-Sender ZET meldete, zwei verirrte Raketen seien in Przewodow niedergegangen. Die Nachrichtenagentur AP meldete unter Berufung auf US-Geheimdienstkreise, bei dem Einschlag russischer Raketen seien zwei Menschen getötet worden.
Ein Vertreter der polnischen Feuerwehr bestätigte zwei Tote bei einer Explosion. "Es ist unklar, was geschehen ist", sagte der diensthabende Beamte. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki berief eine Sitzung des nationalen Sicherheitsrates ein, wie sein Sprecher auf Twitter mitteilte. Die NATO erklärte, sich mit der Sache zu beschäftigen. "Wir prüfen diese Berichte und stimmen uns eng mit unserem Bündnispartner Polen ab", sagte ein NATO-Offizieller.
Russland bezeichnete die Meldungen als "Provokation". Es seien keine Ziele im ukrainisch-polnischen Grenzgebiet beschossen worden, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Polen ist Mitglied der EU und des westlichen Verteidigungsbündnisses NATO.
Massive Raketenangriffe auf ukrainische Städte
Mit über 90 Raketen und Marschflugkörpern hat Russland das Energiesystem der Ukraine angegriffen und schwere Schäden verursacht. Es war ukrainischen Militärangaben zufolge der bislang massivste Angriff auf die Infrastruktur seit Kriegsbeginn vor gut acht Monaten. Etwa sieben Millionen Haushalte saßen den Behörden zufolge zeitweise im Dunkeln, weil der Strom ausfiel oder abgeschaltet werden musste.
Zwar sei es gelungen, etwa 70 der anfliegenden Geschosse abzuschießen, teilte das ukrainische Präsidialamt in Kiew mit. Doch 15 Objekte der Energieversorgung in verschiedenen Landesteilen seien getroffen worden, sagte Vizechef Kyrylo Tymoschenko im Nachrichtendienst Telegram. Auch die Hauptstadt Kiew wurde getroffen, wobei nach Behördenangaben eine Frau getötet wurde.
Tymoschenko bezeichnete die Situation nach den Einschlägen in Bezug auf die Energieinfrastruktur als "kritisch". "Die meisten Treffer wurden im Zentrum und im Norden des Landes festgestellt", schrieb er. Der staatliche Energieversorger Ukrenerho habe zu außerordentlichen Stromabschaltungen übergehen müssen, um das Netz zu stabilisieren.
Selenskyj lobt Durchhaltewillen
Trotz der Treffer bekräftigte Präsident Wolodymyr Selenskyj den Durchhaltewillen der Ukraine. Der Feind werde sein Ziel nicht erreichen, sagte der 44-Jährige in einer Videobotschaft. Alles werde repariert und die Stromversorgung wieder hergestellt. Gleichzeitig lobte er mit geballter Faust die Ukrainer: "Ihr seid Prachtkerle!"
Außenminister Dmytro Kuleba verlangte, die in Indonesien tagende G20-Gruppe führender Wirtschaftsmächte solle den Angriff verurteilen. Die US-Regierung verurteilte die Raketenangriffe Russlands umgehend. "Während die Staats- und Regierungschefs der Welt auf dem G20-Gipfel auf Bali zusammenkommen, um Fragen zu erörtern, die für das Leben und Auskommen der Menschen auf der ganzen Welt von großer Bedeutung sind, bedroht Russland erneut diese Leben und zerstört die kritische Infrastruktur der Ukraine", teilte der Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, mit.
Hunderte Schwerverbrecher beim russischen Abzug aus Cherson freigelassen
Beim Abzug der russischen Truppen sind in der südukrainischen Großstadt Cherson laut Polizei Hunderte Mordverdächtige und andere Schwerverbrecher aus dem Gefängnis geflohen. Von insgesamt über 450 Flüchtigen seien 166 wieder festgenommen worden, sagte Polizeichef Ihor Klymenko im ukrainischen Fernsehen. Ein zu lebenslänglich verurteilter Mörder etwa sei in ein Gefängnis in der benachbarten Großstadt Mykolajiw gebracht worden. Insgesamt wird nach mehr als 100 Männern gefahndet, denen ein Tötungsdelikt vorgeworfen wird. Einer Reporterin des Internetsenders Hromadske nach sind die Häftlinge beim russischen Abzug von einem Gefängnismitarbeiter freigelassen worden.
US-Geheimdienst: Russland wartete wegen Midterms mit Rückzugsankündigung
US-Geheimdienstinformationen legen einem Medienbericht zufolge nahe, dass Moskau den Abzug aus Cherson wegen der US-Zwischenwahlen verzögert angekündigt haben könnte. Russland habe der Regierung von US-Präsident Joe Biden vor den sogenannten Midterms keinen Vorteil verschaffen wollen, berichtete CNN unter Berufung auf vier nicht näher genannte Quellen. Die Wahlen wurden demnach unter hochrangigen russischen Beamten als Faktor für die formelle Ankündigung diskutiert. Sie seien aber nicht der einzige Faktor gewesen. Biden hatte sich am Tag nach den Midterms ähnlich geäußert.
Militärökonom: Ukraine wird im kommenden Jahr siegen
Militärökonom Marcus Matthias Keupp hält den Krieg bereits für strategisch entschieden. "Der Abzug aus der Stadt und der Oblast Cherson zeigt, dass der Krieg bereits strategisch entschieden ist", sagte er der "Zeit". "Ein Sieg der ukrainischen Streitkräfte ist nur noch eine Frage der Zeit. Sie haben die Initiative, Russland hat keine Reserven mehr, um eine Wende herbeizuführen." Er rechne mit einer Niederlage Russlands im kommenden Jahr, "vielleicht im September oder Oktober". Keupp leitet die Abteilung für Militärökonomie an der Militärakademie der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich.
Stoltenberg: Russland trotz Niederlagen nicht unterschätzen
Im Gegensatz zu Keupp warnte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg davor, Russlands militärische Fähigkeiten nach den jüngsten Niederlagen zu unterschätzen. "Wir haben gesehen, dass Russland bereit ist, hohe Verluste in Kauf zu nehmen", sagte der Norweger am Rande eines Treffens der EU-Verteidigungsminister in Brüssel. Moskau verfüge über beträchtliche militärische Fähigkeiten und viele Truppen. Zudem gehe Russland brutal gegen Zivilisten vor. "Wir müssen die Ukraine so lange unterstützen, wie es nötig ist." Trotz Niederlagen halten russische Truppen immer noch knapp ein Fünftel des Nachbarlandes besetzt.
Russische Armee verspricht Kopfgeld und Abschussprämien
Das russische Militär versucht, eingezogene Rekruten mit Abschussprämien und Kopfgeldern im Krieg gegen die Ukraine zu motivieren. Der Armeesender "Swesda" veröffentlichte eine Preisliste auf seinem Telegram-Kanal. Demnach wird der Abschuss eines ukrainischen Flugzeugs mit umgerechnet 5000 Euro vergütet, ein Hubschrauber mit etwas mehr als 3200 Euro, ein Kampfpanzer mit gut 1600 Euro. "Darüber hinaus sind Auszahlungen an Soldaten, die sich bei der Vernichtung von Kämpfern und der Erfüllung anderer Aufgaben besonders hervorgetan haben, möglich - bis zu 100.000 Rubel" - umgerechnet gut 1600 Euro -, heißt es.
Austauschstudent offenbar von Russland rekrutiert und gestorben
Das sambische Außenministerium beklagt den Tod eines sambischen Austauschstudenten, der von Russland rekrutiert worden sein soll. Das afrikanische Land wurde laut einer Pressemitteilung vor einigen Tagen informiert, dass der 23-jährige Lemekhani Nathan Nyirenda an der Front gestorben ist. Über die Botschaft in Moskau habe sich herausgestellt, dass der junge Mann bereits am 22. September ums Leben kam. Der Austauschstudent war demnach in Russland zu einer Haftstrafe verurteilt worden und saß im Gefängnis. Die sambische Regierung fordert nun Aufklärung, wie der Sambier in das Kriegsgebiet geriet.
UN meldet Folter von Kriegsgefangenen auf beiden Seiten
In der Ukraine sind Kriegsgefangene nach Erkenntnissen von UN-Menschenrechtsexperten sowohl auf russischer als auch auf ukrainischer Seite misshandelt und gefoltert worden. Das berichtete die Leiterin der UN-Menschenrechtsdelegation in der Ukraine, Matilda Bogner. Demnach hat nur die ukrainische Seite den Experten gemäß internationalem Recht Zugang zu gefangen genommenen Soldaten gewährt. Mit ukrainischen Gefangenen hätten die Experten nach ihrer Freilassung aus russischem Gewahrsam gesprochen.
Die Delegation beruft sich auf detaillierte Angaben der Gefangenen. Die Delegation habe in den vergangenen Monaten insgesamt 159 Kriegsgefangene gesprochen, die von Russland oder mit Russland verbundenen Konfliktparteien festgehalten wurden. In ukrainischer Kriegsgefangenschaft sprach das Expertenteam mit 175 Männern.
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Quelle: ntv.de, jpe/dpa