Mehr als 100 Tote am blutigen Freitag Neue Proteste in Syrien
23.04.2011, 13:07 Uhr
"Freiheit ist meine Religion", heißt es auf diesem Transparent.
(Foto: REUTERS)
Am blutigen Freitag kommen mehr als 100 Menschen ums Leben. Heute finden die Beisetzungen statt. Dabei gehen erneut Zehntausende auf die Straße. Beobachter sehen den syrischen Diktator Assad in der Zwickmühle: Weder Härte noch das Versprechen von Reformen sind ein sicherer Weg, seine Herrschaft zu retten.
Bei der blutigen Unterdrückung der Massenproteste in Syrien am Freitag sind nach einer neuen Zählung syrischer Aktivisten 112 Demonstranten getötet worden. Demnach starben im Großraum Damaskus 47 Menschen, in der südlichen Stadt Asraa 31, in Homs 27 in Hama 5 und in Latakia einer.
Nach ersten Berichten am Freitag waren 70 bis 75 Demonstranten getötet worden. Hunderte wurden durch Schüsse mit scharfer Munition schwer verletzt. Landesweit waren Hunderttausende auf die Straße gegangen, um gegen die Gewaltherrschaft von Präsident Baschar al-Assad zu demonstrieren, so viele wie noch nie.
Heckenschützen in Zivil feuerten von Hausdächern willkürlich in die Menschenmengen. Die Regimemedien sprachen von "unidentifizierten Bewaffneten". Die Aktivisten gingen aber davon aus, dass sie zu Sonderkommandos des allmächtigen Geheimdienstes gehörten.
Wieder Zehntausende auf der Straße
Bei der Beisetzung von Demonstranten, die am Freitag getötet worden waren, gingen erneut Zehntausende auf die Straße. Bei der Beerdigung von Demonstranten hätten die Menschen "Nieder mit dem Regime" gerufen, berichteten Zeugen. Im staatlichen Fernsehen hieß es, in Asraa seien 8 Menschen getötet und 28 andere, darunter auch Soldaten, verletzt worden. In einem Vorort von Damaskus habe eine bewaffnete Gruppe einen Armee-Stützpunkt angegriffen.
"Heute sind die Beerdigungen, und wir haben Angst, dass dabei mehr Blut vergossen wird, was mehr Proteste und Tote zur Folge haben wird", sagte ein Oppositioneller. "Das ist wie ein Schneeball, der von Woche zu Woche größer wird. Der Zorn nimmt zu, die Straße brodelt." Aus Furcht vor neuen Zusammenstößen wagten sich nach Angaben eines Regierungsgegners in Damaskus viele Menschen nicht aus ihren Häusern.
Assad hatte am Donnerstag den seit 48 Jahren geltenden Ausnahmezustand aufgehoben. Allerdings bleiben andere Gesetze in Kraft, die der Staatssicherheit weitgehende Vollmachten einräumen. Die Opposition verschärfte deshalb ihre Forderungen. In einer gemeinsamen Erklärung verlangten verschiedene Gruppen ein Ende des Machtmonopols der Baath-Partei, ein demokratisches System und die Freilassung politischer Häftlinge. Der bestehende Sicherheitsapparat müsse aufgelöst und durch eine Institution ersetzt werden, die an Recht und Gesetz gebunden sei.
Assad in der Zwickmühle
Beobachter sehen Assad in einer Zwickmühle. Einerseits könnten ihm größere Zugeständnisse als Schwäche ausgelegt werden, andererseits drohten schärfere Repressionen eine wachsende Opposition zu mobilisieren. "Entweder er entscheidet sich für eine Umbildung des Regimes, oder dieses fliegt auseinander", sagte der Syrien-Experte Jamil Mroue. "Er muss dem Volk zeigen, dass einen dramatischen Wandel gibt, dass es in einigen Jahren Wahlen geben wird, dass er nicht lebenslang Präsident sein wird, dass es nicht länger eine Dynastie geben wird." Ferner müsse Assad seine Gefolgschaft konsequent von korrupten Amtsträgern säubern. Dies würde allerdings Machtstrukturen infrage stellen, die seit 40 Jahren bestehen, und birgt die Gefahr ernsthafter Konflikte mit der Herrschaftselite.
Mitglieder von Assads alawitischer Familie leiten die mächtigen Sicherheitskräfte. Die Schlüsselpositionen im Staats- und Sicherheitsapparat werden von der Minderheit der Alawiten besetzt, die dadurch im überwiegend von Sunniten bewohnten Syrien das Sagen hat. Damit verfügt der Präsident über eine deutlich stärkere Machtbasis als seine aus dem Amt gejagten früheren Kollegen in Ägypten und Tunesien, wo führende Generäle sich weigerten, auf Demonstranten zu schießen. Da in Syrien ein Großteil rangniederen Soldaten Sunniten sind, erwarten Experten allerdings auch dort Widerstand gegen etwaige Schießbefehle. "Es gibt eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Armee gespalten sein wird oder sie an einem Angriff nicht teilnehmen wird, falls dieser angeordnet werden sollte", sagte Sarkis Naoum von der Beiruter Zeitung "An-Nahar". "Es ist nicht leicht, das Regime zu stürzen, aber es ist leicht, es zu spalten."
Quelle: ntv.de, dpa/AFP/rts