Ohrfeige für Kuhn Özdemir gewählt
15.11.2008, 20:32 UhrDie Grünen schreiben Parteigeschichte: Mit Cem Özdemir haben sie als erste Partei in Deutschland einen Vorsitzenden türkischer Herkunft. Der Bundesparteitag in Erfurt wählte den 42-jährigen Realpolitiker mit 79,2 Prozent in die Doppelspitze mit Claudia Roth vom linken Parteiflügel. Roth erhielt 82,7 Prozent und damit ein deutlich besseres Ergebnis als vor zwei Jahren (66,5 Prozent).
Der Bundestags-Fraktionschef Fritz Kuhn musste dagegen eine herbe Niederlage bei der Wahl des Parteirats einstecken. Der 53-Jährige bekam nicht die erforderliche Zahl der Delegiertenstimmen und verpasst so den neuerlichen Einzug in das Gremium.
Die Delegierten bejubelten beide Vorsitzende für kämpferische Reden. In den Bundestagswahlkampf ziehen die Grünen so mit einem großem Vertrauensvorschuss für ihre Spitze und mit dem Anspruch auf Erneuerung alter grüner Werte. Koalitionsaussagen trafen sie nicht.
"Weil wir es besser können"
Özdemir sprach die Probleme der Grünen offen an. Ihre Ideen kämen bei den Menschen zum Teil nicht an, weil sie zu unverständlich präsentiert würden. Die Partei beschäftige sich zu oft mit sich selbst und zu wenig mit dem politischem Gegner. Dabei stünden die Grünen für den Politikwechsel nach der Bundestagswahl 2009. "Ich wünsche mir, dass wir drankommen, weil wir es besser können."
Özdemir kündigte ein verstärktes Engagement für sozial Schwache an. "Es gibt keine hoffnungslosen Fälle oder hoffnungslose Menschen in der Gesellschaft", sagte er. "Ich möchte eine Gesellschaft, in der alle mitgenommen werden, egal welche Herkunft sie haben, ob ihre Vorfahren aus Kasachstan, aus Anatolien kommen oder ob sie schon gegen die Römer im Teutoburger Wald gekämpft haben."
Der großen Koalition sagte Özdemir den Kampf an: "Wir müssen die Regierung stärker in die Manndeckung, von mir aus auch in die Fraudeckung nehmen." Auch Linke und FDP griff Özdemir scharf an.
Intern war der neue Grünen-Chef um Signale der Geschlossenheit bemüht. "Es gibt keinen Linken oder Realo-Bundesvorsitzenden", sagte er. Sechs Jahre nach seinem Rückzug aus der Bundespolitik wegen einer Bonusmeilenaffäre versuchte der Europaabgeordnete, hohe Erwartungen an seine Rückkehr in die Bundespolitik zu dämpfen. "Ich müsste Euch enttäuschen, wenn Ihr von mir erwartet, dass ich am Montag ein neues Grundsatzprogramm verkünde." Von Özdemir erhofft sich die Partei neue Wähler unter Zuwanderern und jungen Menschen.
"So türkisch wie ich deutsch bin"
Nach seiner Wahl sagte Özdemir vor Journalisten, darunter zahlreichen von türkischen Medien: "Ich freue mich über das tolle Ergebnis, das so nicht vorherzusehen war." Er spüre Rückenwind. "Ich glaube, ich bin so türkisch wie ich deutsch bin", sagte der erste deutsche Parteichef aus einer Zuwandererfamilie.
Im Bundestagswahljahr 2009 setzen die Grünen nun auf Erneuerung. Ihre Chancen auf eine Rückkehr an die Macht mit der SPD schätzten sie selbst aber eher gering ein. Die Sozialdemokratie habe ein "Burn-out-Syndrom", sagte Roth.
Özdemir erhielt 617 Ja-, 107 Nein-Stimmen und 46 Enthaltungen. Der Europaabgeordnete folgt dem 55-jährigen Reinhard Bütikofer nach, der die Führung in jüngere Hände legen wollte und nun ins EU-Parlament strebt. Auf Roth entfielen 638 Ja-, 81 Nein-Stimmen und 52 Enthaltungen.
Kuhn fehlen sechs Stimmen
In ihren Ämtern bestätigt wurden die Geschäftsführerin Steffi Lemke (86 Prozent) und Schatzmeister Dietmar Strehl (65,4 Prozent). In den Parteivorstand wählten die Delegierten zudem die Thüringer Landeschefin Astrid Rothe-Beinlich (76,1 Prozent) sowie Malte Spitz (66,4 Prozent), Ex-Vorstand der Grünen Jugend.
Kuhn erhielt 52 Prozent der Stimmen, zu wenig für einen der sieben Männer-Plätze. Er erhielt mit 393 Stimmen nur 6 Stimmen weniger als der siebte Mann in dem Gremium, der Bundestagsabgeordnete Gerhard Schick. Vergeblich hatte Kuhn dafür geworben, dass er die soziale Kompetenz der Grünen in den Parteirat einbringen wolle.
Kuhn wird von Mitgliedern intern ein autoritärer Führungsstil vorgeworfen. Er war sichtlich betroffen. Eine Stellungnahme gab er im Anschluss nicht ab.
Gr ößte Zustimmung für Al-Wazir
Die mit Abstand größte Zustimmung für den Parteirat erhielt mit 597 Stimmen der hessische Grünen-Fraktionschef Tarek Al-Wazir. Auf Platz zwei folgte mit 573 Stimmen der Bundestags-Fraktions-Vize und designierte Bundestags-Spitzenkandidat Jürgen Trittin.
Ebenfalls klar in den Parteirat gewählt wurde Fraktionschefin Renate Künast (514 Stimmen), die gemeinsam mit Trittin die Grünen in den Bundestagswahlkampf führen soll. Der Parteirat koordiniert die Arbeit zwischen den Gremien der Bundespartei, den Fraktionen und den Landesverbänden und gilt als strategisches Führungsgremium der Grünen.
"Wir ducken uns nicht weg"
Roth sagte, das Wahljahr 2009 werde "verdammt hart und verdammt schwer". Die Grünen stellten sich aber den Problemen. Sie rief den Delegierten zu: "Wir ducken uns nicht weg." Die Grünen stellten sich den Problemen, sagte die 53-Jährige, die - mit einer Unterbrechung - insgesamt mehr als fünf Jahre im Amt ist.
Roth sagte, sie habe ihre Visionen nie aufgegeben und wisse, dass langer Atem nötig sei. "Wir Grünen verändern das Land." Sie stehe für eine Partei, die am Atomausstieg festhalte, sich für Gerechtigkeit und Menschenwürde einsetze sowie für ein sozial-ökologisches Investitionsprogramm werbe. Sie setzte sich für breite Bündnisse gegen Rechtsextremismus und mit globalisierungskritischen Bewegungen ein.
"Grüner New Deal"
Vor den Wahlgängen hatten die Delegierten ein Konzept zur Bewältigung der Finanzkrise verabschiedet. Angelehnt an die US-Politik gegen die Wirtschaftsdepression der 30er Jahre fordern die Grünen unter dem Titel "Grüner New Deal" ein Bündel von sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Reformen. Sie wollen eine bessere Kontrolle der Märkte und gleichzeitige Verbesserung von Sozialleistungen und Klimaschutz mit Investitionsprogrammen in Höhe von mindestens 20 Milliarden Euro. Eine genaue Summe wurde nicht genannt.
Die Partei warnte davor, Finanz-, Klima- und Sozialkrisen unabhängig voneinander zu bekämpfen. US-Präsident Franklin D. Roosevelt hatte in den 30er Jahren mit seinem "New Deal" der Weltwirtschaftskrise Reformen auf breiter Ebene entgegengesetzt. Vom künftigen US-Präsidenten Barack Obama wird jetzt Ähnliches erwartet.
Ferner machte der Parteitag abermals die Menschenrechte zum Thema. Die Bundesregierung wurde aufgefordert, Inhaftierte des US-Gefangenenlagers Guantnamo auf Kuba in Deutschland aufzunehmen. Das Lager sei ein Skandal und müsse geschlossen werden.
Quelle: ntv.de