Hochgekochte Emotionen Polnische "Stammesfehde" fordert Opfer
20.10.2010, 14:54 UhrDer Graben, der die beiden größten Parteien Polens in zwei verfeindete Lager teilt, wird immer tiefer. Nach einem Mord schlagen die Medien Alarm. Hat die polnische Politik ihre Unschuld verloren?
Seit Jahren kämpfen die liberal-konservative Bürgerplattform (PO) von Donald Tusk und die National-Konservativen von der Recht und Gerechtigkeit (PiS) unter Jaroslaw Kaczynski mit harten Bandagen um die Macht und die Seelen ihrer Landsleute. Nach dem Mord an einem PiS-Mitarbeiter dreht sich nun die Spirale des Konfliktes, den manche bereits als polnische "Stammesfehde" bezeichnen, kräftig weiter.
Ein bewaffneter 62-Jähriger in das PiS-Büro in Lodz gestürmt und hatte einen Parteimitarbeiter erschossen. Einen 39-Jährigen verletzte der Angreifer mit einem Messer lebensgefährlich. Er wolle Kaczynski töten, weil er PiS hasse, soll der Täter laut Augenzeugen geschrienen haben, bevor er überwältigt wurde.
Kaczynski zeigt mit dem Finger auf Tusk
Die polnischen Medien schlugen Alarm: Das sei der erste politische Mord in Polen nach dem demokratischen Umbruch von 1989 gewesen. "Die polnische Politik hat ihre Unschuld verloren", meinte die linksliberale Zeitung "Gazeta Wyborcza". Die Kugeln, die der Mörder abgefeuert habe, haben uns alle getroffen, titelte "Polska".
Der "Mord von Lodz" sei kein Zufall, erklärte Kaczynski ohne die Ermittlungen abzuwarten und zeigte mit dem Finger auf Tusk. Der Anschlag sei eine Folge der "Hasspropaganda" gegen seine Partei, sagte der national-konservative Ex-Premier. Er forderte unterdessen die Einberufung einer parlamentarischen Untersuchungskommission, um die möglichen Hintermänner ausfindig zu machen. Obwohl vieles auf einen Amoklauf hinweise, könne ein gezielter Versuch, seine Partei massiv einzuschüchtern, nicht ausgeschlossen werden, so Kaczynski.
"Tötet uns nicht", appellierte pathetisch Witold Waszczykowski, der sich von der PiS-Liste um das Amt des Bürgermeisters in Lodz bewirbt. Nicht nur er sieht PiS als verfolgte Minderheit, die einzige, die um die nationalen Interessen des Vaterlandes kämpft.
Wissenschaftler erwartet Gewaltspirale
Als "Heuchelei" wies PO-Parlamentarier Andrzej Czuma die Klagen der PiS zurück. Es sei Jaroslaw Kaczynski gewesen, der nach dem Tod seines Zwillingsbruders, Präsident Lech Kaczynski, bei einem Flugzeugabsturz vor sechs Monaten mit seinen Anschuldigungen gegen Tusk den Hass geschürt habe, sagte Czuma. "Wer Wind sät, wird Sturm ernten", so der Ex-Justizminister.
Die PiS gab Tusk und seiner Regierung die moralische Schuld für die Flugkatastrophe bei Smolensk. Die National-Konservativen sehen in ihm einen Verräter, der sich mit dem Kreml gegen Lech Kaczynski verbündete.
Trotz scharfer Angriffe ließ sich Tusk nicht aus der Fassung bringen. Alle Politiker sollten die Emotionen zügeln, sagte er direkt nach dem Anschlag. Präsident Bronislaw Komorowski rief im Parlament dazu auf, eine breite Front gegen Aggression und Hass zu schaffen.
"Von einer Besinnung kann keine Rede sein", meint skeptisch Soziologe Wojciech Lukowski. Die Spirale der Aggression werde sich immer und weiter weiter drehen, sagt der Wissenschaftler voraus.
Quelle: ntv.de, Jacek Lepiarz