Mehr Demokratie, andere Politik Putin-Kritik von hoher Stelle
03.02.2010, 20:17 Uhr
Wieviel Macht hat Putin tatsächlich?
(Foto: REUTERS)
Bisher galt in Russland öffentliche Kritik an Premier Putin als tabu - nun fordern selbst kremlnahe Experten ein Ende des von ihm geschaffenen Systems und eine Rückkehr zu den "demokratischen Zeiten" unter Präsident Jelzin - inklusive EU-Beitritt. Senatspräsident Mironow, drittwichtigster Mann im Staat, attackiert indes Putins Haushaltspolitik.
Das Moskauer Institut für moderne Entwicklung (INSOR), das Kremlchef Dmitri Medwedew gründete, hat in einem Strategiepapier den radikalen politischen Umbau Russlands verlangt. Das berichteten mehrere russische Zeitungen. Der dritthöchste Mann in Russland, Senatspräsident Sergej Mironow, griff derweil die Haushaltspolitk von Ministerpräsident Wladimir Putin an - und erntete erboste Rücktrittsforderungen.
Die Initiatoren des Strategiepapiers schlagen etwa eine Auflösung des Geheimdienstes und des Innenministeriums sowie die Schaffung neuer Sicherheitsstrukturen und eines tatsächlichen Mehrparteiensystems vor. Das neue System müsse auf Gewalt verzichten, zitierte die Zeitung "Wedomosti" aus dem Papier.
Überraschung über Reaktionen
Auch der Präsident des russischen Senats, Sergej Mironow, sorgte mit Kritik an Putin für politischen Wirbel. In Putins Partei Einiges Russland wurden Rücktrittsforderungen an Mironow, den formal drittwichtigsten Mann im Staat, laut. "Wenn Mironow Kritik üben will, soll er zurücktreten", erklärte Parteimitglied Tatjana Jakowlawa auf der Webseite der Partei. Am Vortag hatte sich Parteifunktionär Andrej Worobjow ähnlich geäußert.

Offiziell passt kein Blatt Papier zwischen die beiden: Russlands Premier Putin (r) und Präsident Medwedew beim Skifahren in der Nähe von Sotschi.
(Foto: REUTERS)
Mironow, Chef der Kreml-treuen Partei Gerechtes Russland, hatte in einer politischen Talkshow im russischen Fernsehen die Haushaltspolitik Putins kritisiert. "Wir stimmen mit den von Wladimir Putin unterbreiteten Maßnahmen zu Krisenbewältigung nicht überein und haben deshalb unseren eigenen Krisenplan vorgelegt", sagte Mironow. "Darum wären Berichte, wonach wir und ich persönlich Putin in jeder Angelegenheit unterstützen, veraltet", fügte er hinzu. Mironow zeigte sich überrascht von der Reaktion der Regierungspartei, weil er die Krisenpolitik doch bereits in der Vergangenheit kritisiert habe.
Machtkampf um die Wahl 2012
INSOR schlägt derweil auch die Wiedereinführung der Direktwahl regionaler Gouverneure vor. Damit würde die zentralistische Ausrichtung Russlands abgeschwächt. Die Gouverneure waren unter Präsident Boris Jelzin direkt vom Volk gewählt worden. Sein Nachfolger Wladimir Putin sorgte dafür, dass sie vom Kreml vorgeschlagen und von den Regionalparlamenten bestätigt werden, wodurch ihre Macht beschnitten wurde.
Für die Modernisierung des Landes sei zudem eine Entbürokratisierung der Wirtschaft erforderlich, schreiben die INSOR-Autoren weiter. Die russische Führung müsse eine Entscheidung treffen, um die "historische Chance" zur Umgestaltung des Landes nicht zu verpassen.
Kommentatoren sehen in dem Papier den Versuch, zu den "demokratischen Zeiten" der 1990er Jahre unter dem damaligen Präsidenten Boris Jelzin zurückzukehren. Statt des Inhaltsgeheimdienstes FSB solle es etwa einen Aufklärungsdienst geben. Die Autoren schließen auch eine EU- und NATO-Mitgliedschaft Russlands in Zukunft nicht aus.
Stützte für Medwedews Reformen
Die Boulevardzeitung "Moskowski Komsomolez" bewertete das Papier als Versuch, Putins Machtsystem zu demontieren. Die politischen Lager um Putin und Medwedew stecken nach Einschätzung von Beobachtern im Machtkampf wegen der Präsidentenwahl 2012.
Medwedew hatte INSOR gegründet, nachdem er 2008 das Präsidentenamt übernommen hatte. Das Institut gilt als Hauptstütze für Medwedews Vorhaben, das politische und wirtschaftliche System Russlands zu modernisieren. Der Staatschef hatte in den vergangenen Monaten immer wieder seinen Willen zu grundlegenden Neuerungen betont.
Einige Beobachter glauben aber nicht an eine konsequente Umsetzung dieser Politik, weil der wahre Machthaber in Russland immer noch Putin sei. Auch INSOR-Chef Igor Jurgens schätzte Putins Einfluss hoch ein. "Seine Beliebtheit bewirkt, dass er jede Entscheidung treffen kann", sagte Jurgens. "Wir zählen auf seinen gesunden Menschenverstand."
Quelle: ntv.de, mli/dpa/AFP