Plan für nächste sechs Jahre Putin malt sich eine schöne neue Welt


Wladimir Putin wünscht sich eine neue Weltordnung - mit Russland im Mittelpunkt. Wer damit nicht einverstanden ist, riskiert einen Atomkrieg, der "zur Zerstörung der Zivilisation führen kann", droht der Kremlchef in seiner Rede zur Lage der Nation.
Beste Stimmung herrscht in Moskaus Kongresszentrum Gostinyj Dwor: Zur Mittagszeit empfängt Wladimir Putin im historischen Gebäude unweit des Kremls seine Gefolgsleute zur jährlichen Rede zur Lage der Nation. Angesichts der russischen Erfolge an der Front und der stockenden Hilfe für die Ukraine aus dem Westen versprühen die Gäste schon vor Beginn der Ansprache Optimismus. Politiker, Geistliche, Aktivisten, bekannte Schauspieler und Musiker sind da - sie plaudern lächelnd miteinander und nehmen entspannt ihre Plätze ein. Mit nur 14 Minuten Verspätung betritt Putin, der sonst meistens länger auf sich warten lässt, die Bühne.
Formal spricht Putin vor der Föderationsversammlung, also den beiden Parlamentskammern von Staatsduma und Föderationsrats. Tatsächlich ist dies eine politische Show mit Bühne, Kulisse und Claqueuren. Die Rede wird live von allen föderalen Fernsehsendern übertragen, sie läuft sogar in einigen Kinoketten im ganzen Land. An Schulen und Universitäten wird der Unterricht unterbrochen, auch in Büros und Fabriken versammeln sich Belegschaften vor großen Bildschirmen, um die zu verfolgen, die nicht nur die Pläne für die nahe Zukunft erläutern, sondern auch strategische Ziele für die Zukunft setzen soll.
Es ist Putins 19. Ansprache zur Lage der Nation und die längste in der Geschichte. Der Kremlchef spricht mehr als zwei Stunden. Im Grunde ist es eine Wahlkampfrede - obwohl es vor der Präsidentschaftswahl in gut zwei Wochen keinen wirklichen Wahlkampf gibt. All seine Herausforderer hat Putin längst aus dem Weg geräumt. Zum Tod seines Hauptgegners Alexej Nawalny verliert der Machthaber kein Wort.
"Aggression des internationalen Terrorismus abgewehrt"
Zum Krieg in der Ukraine sagt Putin nichts Neues und beschränkt sich auf die Wiederholung der Lügen, die er in der einen oder anderen Form seit mindestens zwei Jahren verbreitet. Wie auch in seiner Ansprache vor einem Jahr gibt Putin dem Westen die Schuld für die Entfachung des Krieges. Sein Land stellt er als Opfer dar. "Wir haben die Aggression des internationalen Terrorismus abgewehrt", behauptet der Kremlchef.
Die Sorgen Europas vor einem möglichen Angriff Russlands auf einen oder mehrere NATO-Staaten nutzt Putin, um der EU vorzuwerfen, sie würde "weiterhin lügen", indem sie "ohne jegliche Verlegenheit" erkläre, Russland beabsichtige, Europa anzugreifen. Dass die Sorgen nicht unbegründet sind, macht Putin selbst wenige Augenblicke später deutlich: Zum wiederholten Mal droht er dem Westen mit Atomkrieg. Mit Blick auf Emmanuel Macrons Gedankenspiel über eine mögliche Entsendung westlicher Bodentruppen in der Ukraine zum Schutz vor russischen Angreifern sagt er: "Wir erinnern uns an das Schicksal derer, die einst ihre Kontingente auf das Territorium unseres Landes geschickt haben." Damit meint der Kremlchef offensichtlich die Armee Nazi-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg und die Napoleons im Jahr 1812, die beide in Russland Niederlagen erlitten haben.
Dass es dem Westen heute nicht darum geht, Russland zu erobern, sondern die Ukraine vor Russlands Aggression zu schützen, lässt Putin außer Acht. Genauso die Tatsache, dass selbst Macron, dessen Worte in der EU scharf kritisiert wurden, von einer möglichen Entsendung der Truppen in die Ukraine sprach, nicht nach Russland. Damit wird nochmals klar - Putin betrachtet die Ukraine als sein Territorium. "Jetzt werden die Folgen für mögliche Interventionisten viel tragischer sein. Sie müssen verstehen, dass wir auch Waffen haben, die Ziele auf ihrem Territorium treffen können", droht Putin dem Westen, bevor er atomwaffenfähige Systeme aufzählt, die Russland in seinem Arsenal hat.
"Neue Sicherheitsarchitektur Eurasiens"
Sollte Russland einen Atomkrieg entfachen, wäre aus Putins Sicht wiederum allein der Westen dafür verantwortlich: "Verstehen sie nicht, dass das alles zu einem Atomkrieg führen kann, der zu einer Zerstörung der Zivilisation führen kann?" Diese Rhetorik erinnert an Putins Interview mit dem rechtspopulistischen US-Journalisten Tucker Carlson, in dem der Kremlchef behauptet hatte, Polen habe 1939 Adolf Hitlers legitime Forderungen nach der Rückgabe des "Danziger Korridors" - eines Landstreifens im Norden Polens, der Ostpreußen vom übrigen Deutschland trennte - abgelehnt und dem Diktator somit keine andere Wahl gelassen, als das Land zu überfallen und den Zweiten Weltkrieg zu beginnen.
Wie unsinnig und widersprüchlich Putins Aussagen sind, scheint im Saal niemandem aufzufallen. Das russische Fernsehen zeigt zustimmend nickende Gäste, die ihrem Anführer Beifall klatschen. Und der Kremlchef packt einen obendrauf: Der "kolonialistische" Westen wolle mit Russland dasselbe machen, was er schon mit der Ukraine getan habe - es zerstören und zu einem "sterbenden Raum" machen. In Wirklichkeit ist es natürlich Russland, das seit zwei Jahren dabei ist, ukrainische Städte und Dörfer von Angesicht der Erde zu löschen.
Putin zeigt deutlich, dass er sich mit einem Sieg in der Ukraine nicht zufriedengeben wird, dass seine Ambitionen weitergehen. Es sei bereits in naher Zukunft notwendig, "an der Gestaltung der neuen Sicherheitsarchitektur Eurasiens zu arbeiten", verkündet der 71-Jährige. Der russische Herrscher fordert eine neue Weltordnung, in der der Kreml eine zentrale Rolle spielen soll.
Kinderreiche Großfamilien sollen "Norm" werden
Dem Krieg und den Drohungen widmet Putin allerdings nur einen kleinen Teil seiner Rede. Mehr als anderthalb Stunden spricht der Machthaber über die blühende Zukunft, die Russland nach seiner Ansicht bald erwartet. Da 2030 die Putins fünfte Amtszeit als Präsident endet, gilt die Rede auch als Vorstellung seines Wahlprogramms für die kommenden sechs Jahre, eine Art postsowjetischer Sechsjahresplan.
Im Mittelpunkt seiner schönen neuen Welt steht die "traditionelle" Familie. Das Hauptziel jeder Familie sei es, Kinder zur Welt zu bringen, je mehr, desto besser. Putin bezeichnet sein Land als "Grundpfeiler der traditionellen Werte" und erklärt, eine kinderreiche Großfamilie solle "die Norm, die Lebensphilosophie der Gesellschaft und der Maßstab für die gesamte staatliche Strategie" werden. Vor zwei Wochen hatte sich Putin bereits beim Besuch einer Panzerfabrik in der Ural-Region ähnlich geäußert. Russische Familien sollten mindestens zwei Kinder hervorbringen, um das ethnische Überleben des Landes zu sichern, sagte er. Diese Forderung sorgte angesichts hoher Verluste im Ukraine-Krieg für Häme und Empörung im Netz.
Gleichzeitig räumt Putin ein, dass etwa 30 Prozent der Großfamilien in Russland unterhalb der Armutsgrenze leben. In seiner nächsten Amtszeit soll dieser Anteil auf 12 Prozent gesenkt werden, fordert Putin. Wie das geschafft werden soll, sagte er nicht. Auffällig ist, dass Putin vorsichtshalber jede echte Zuständigkeit komplett von sich weist: Selbst die Renovierung von Universitäten oder die Ankündigung einer Unternehmenssteuerreform präsentiert er als Vorschläge, als Bitten oder Forderungen an die Regierung. Das hat für ihn den Vorteil, nie dafür verantwortlich zu sein, sollten all die schönen Pläne nicht aufgehen. Schuld sind dann die, die ihm heute im Gostinyj Dwor applaudieren. Oder eben der Westen.
Quelle: ntv.de