Scholz verhöhnt, USA beschuldigt Unbeirrter Putin belehrt und droht dem Westen


Fit, gut gelaunt und selbstbewusst wendet sich Russlands Präsident Putin erstmals seit seinem Einmarsch in die Ukraine 2022 an ein westliches Publikum. Im Interview mit Tucker Carlson dient dieser Putin vor allem als Stichwortgeber, den Westen für alles Mögliche zu beschuldigen. Kritische Fragen gibt es kaum.
Erstmals seit seiner militärischen Invasion in die Ukraine vor zwei Jahren hat Russlands Präsident wieder einem westlichen Journalisten ein Interview gegeben und darin die USA und ihre NATO-Verbündeten allein verantwortlich für den Krieg gemacht. "Das ist ein Versuch, den Krieg zu stoppen", sagte Putin über den Einmarsch in einem zweistündigen Gespräch mit dem früheren Fox-News-Moderator Tucker Carlson. Die Ukraine habe in Wahrheit auf Geheiß des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes CIA den Krieg mit einer militärischen Kampagne gegen die russisch geprägte Ostukraine begonnen. Putin beteuerte, zu Friedensgesprächen bereit zu sein: "Wir haben nie Verhandlungen abgelehnt." Kritische Fragen zu den russischen Menschenrechtsverbrechen in der Ukraine musste Putin ebenso wenig beantworten wie zu seiner eigenen autoritären Herrschaft in Russland.
Anders als es etwa bei einem deutschen Nachrichtenmedium üblich wäre, informierte Carlson bislang nicht zu den Umständen des Interviews; etwa darüber, ob er frei in der Auswahl seiner Fragen und Themen war. Er veröffentlichte das Video wie angekündigt um 18 Uhr Ostküstenzeit auf seinem eigenen Internetportal tuckercarlson.com "ungeschnitten und in voller Länge". Carlson, der infolge seiner Lügen über die angeblich manipulierte US-Präsidentschaftswahl 2020 vom stramm konservativen Sender Fox entlassen worden war, betätigte sich in erster Linie als Stichwortgeber für Putins Rechtfertigung des von ihm angeordneten Überfalls auf die Ukraine. An gleich mehreren Stellen spannte Carlson aber auch Putin als Kronzeugen ein für die von ihm gegen die US-Regierung erhobenen Vorwürfe eines Medien zensierenden, manipulativen "tiefen Staats".
Während Putins Aussagen an vielen Stellen nachweislich falsch waren und an anderer Stelle zumindest streitbar, machte das Gespräch aber auch eines deutlich: Der Kreml-Herrscher ist weder geistig wirr noch wirkt er anderweitig angeschlagen. Über die vollen 120 Minuten präsentierte sich Putin hoch konzentriert und fit, er witzelte hier und da und nannte aus dem Gedächtnis reihenweise Zahlen und Wirtschaftsdaten, insbesondere mit Blick auf die USA, die sich im Niedergang befänden und deshalb umso aggressiver um sich schlügen.
Putin lädt zum "Seminar"
Carlson hatte in seiner Interview-Ankündigung behauptet, den Bevölkerungen der englischsprachigen Länder sei bisher durch ihre Regierungen und den von ihnen gesteuerten Medien verwehrt worden, Putins Gründe für den Krieg aus dessen Mund zu hören. Er eröffnete das Interview mit der Frage, warum sich Russlands Staatschef ausgerechnet an jenem 24. Februar 2022 zum Einmarsch in die Ukraine gezwungen sah. Putin antwortete mit einem mehr als halbstündigen Monolog zur Geschichte der Ukraine und der Entwicklung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen nach dem Ende der Sowjetunion.
"Das Seminar kommt gleich zum Schluss", beruhigte Putin nach etwa 20 Minuten sein Gegenüber, um dann unbeirrt weiterzufahren. Dem 71-Jährigen war es offensichtlich wichtig, den westlichen Zuschauern seine Version der ukrainischen Geschichte zu vermitteln. "Die Ukraine ist ein künstlicher Staat, der nach Stalins Willen geformt wurde", sagte Putin. Die Idee einer ukrainischen Kultur und Identität sei lediglich ein Instrument, mit dem erst Litauer und Polen, später Österreich-Ungarn einen Spalt zwischen die Menschen in der heutigen Ukraine und Russland treiben wollten, um diese Gebiete selbst zu kolonisieren.
Ukrainische und westliche Historiker haben schon lange vor dem Krieg in der Ukraine die Herausbildung der ukrainischen Identität gegen sämtliche Fremdbestimmung nachgezeichnet - auch gegen die durch Moskau. Sowjetherrscher Josef Stalin hatte diese Unabhängigkeitsbestrebungen mit einer massiven Hungerkampagne in den 1920er und 1930er Jahren bekämpft, dem sogenannten Holodomor mit rund vier Millionen Toten. Carlson war von Putins Geschichtsvortrag erkennbar überfordert und widersprach auch nicht, als Putin Warschau eine Mitschuld am Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen gab, während sich Russland im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts ja nur seine rechtmäßigen Gebiete zurückgeholt habe.
Russland als Opfer, die CIA der Täter
Nach dem Ende der Sowjetunion, das er bis heute nicht verstehen könne, habe der Westen Russland Beziehungen auf Augenhöhe verweigert, beklagte Putin. "Sie haben uns getäuscht", sagte er unter anderem mit Blick auf die NATO-Erweiterung und den von US-Präsident George W. Bush in Europa installierten US-Raketenabwehrschirm. Als der ukrainische Präsident Wiktor Janukowytsch 2014 gezögert habe, ob er die Zollunion mit Russland beibehalten oder ein Assoziierungsabkommen mit der EU eingehen solle, sei Janukowytsch durch die CIA gestürzt worden; die Maidan-Revolution eine einzige Inszenierung. Russland habe daraufhin die Krim "unter Schutz" nehmen müssen, lautete Putins Umschreibung für die völkerrechtswidrige Annexion der Halbinsel im Schwarzen Meer.
Die neue ukrainische Regierung habe dann eine "großangelegte militärische Operation" gegen den Donbass gestartet, beklagte Putin. Er selbst hätte das unter anderem von Angela Merkel vermittelte Minsker Abkommen angeblich gerne umgesetzt und die nach Unabhängigkeit strebenden Regierungen in Donezk und Donbass zum Verbleib in der Ukraine als autonome Republiken überreden wollen. Tatsächlich waren die dortigen Aufstände durch den Kreml inszeniert und maßgebliche Führungsfiguren durch Moskau gesteuert; einige stammten nicht einmal aus der Region, sondern aus Russland.
Als dritten Grund seiner Invasion wiederholte Putin die Behauptung, ihm ginge es um "De-Nazifizierung", weil die Ukraine Faschisten zu Widerstandshelden und Befreiungskämpfern stilisiere. Das bezieht sich insbesondere auf Stepan Bandera, der im Kampf um eine unabhängige Ukraine nachweislich mit Nazi-Deutschland kooperierte und dessen Truppen an diversen Gräueltaten gegen Polen, Russen und die jüdische Bevölkerung der Ukraine beteiligt waren.
Wie er die Einstellung einer ganzen Bevölkerung ändern wolle, die er nur zum Teil kontrolliere, wollte Carlson von Putin wissen. Faschisten zurückzudrängen sei Teil des im März 2022 ausgehandelten Friedensvertrags gewesen, den die Ukraine auf Geheiß der Briten und der USA dann doch nicht unterschrieben hätten, entgegnete Putin. Er behauptete, Moskau habe eigens russische Truppen von Kiew abgezogen, um die Istanbul-Vereinbarung zu ermöglichen.
Nachweislich musste Moskau aus dem Norden der Ukraine abziehen, weil die Widerstandskraft der ukrainischen Armee und Bevölkerung komplett unterschätzt wurde und die Invasion logistisch schlecht vorbereitet war. Carlson widersprach Putin hier erneut nicht. Nicht einmal befragte er ihn zu den vielen Toten auch auf russischer Seite oder zu Putins systematischem Krieg gegen die ukrainische Zivilbevölkerung.
Putin als Kronzeuge der US-Rechtskonservativen
Putin beteuerte, dass er nur Frieden in der Welt wolle. Dass Russland die NATO-Staaten bedroht, sei eine Lüge. "Wir haben kein Interesse an Polen, Lettland oder irgendwo sonst." Dass Russland Atomwaffen einsetzen könnte, werde im Westen nur behauptet, um den Wählern weiteres Steuergeld für den Krieg in der Ukraine abzupressen. Dabei hatte Putin tatsächlich mit Russlands nuklearen Fähigkeiten gedroht, woran Carlson ihn aber nicht erinnern wollte.
Weil Putin ihm die Frage nach dem Grund für den Zeitpunkt der Invasion nicht beantwortete, betätigte sich Carlson selbst als Stichwortgeber und behauptete, US-Vizepräsidentin Kamala Harris habe die Ukraine Mitte Februar auf der Münchener Sicherheitskonferenz in die NATO eingeladen. "Glauben Sie, das sollte Sie zu einer militärischen Aktion provozieren?" Putin bedankte sich für die suggestive Frage und beklagte erneut, dass im Westen ja keiner auf Russlands Warnungen gehört habe.
Präsident Bill Clinton oder Bush Senior seien immer offen gewesen für seine Vorschläge vertiefter Zusammenarbeit, sagte Putin. Nach Rücksprache mit ihren Geheimdiensten und Ministerien hätten sie es sich dann aber stets anders überlegt. "Es klingt, als würden Sie ein System beschreiben, das nicht von den Menschen geführt wird, die gewählt wurden", witterte Carlson einen Beleg über die von vielen US-Rechtskonservativen erhobene Klage über einen "tiefen Staat", den Trump hinter jeder Ecke wittert. Auch an weiteren Stellen bedient Putin die Themen von Trump und Co: Ob die USA nicht Besseres zu tun hätten, als tausende Kilometer von der Heimat zu kämpfen, angesichts der Probleme an der eigenen Grenze und der hohen Staatsverschuldung?
Sinistre Gestalten im Staatsapparat führten die USA immer wieder in die Logik und zu Mitteln des Kalten Krieges, um Russland immer weiter zu schwächen, sagte Putin. "Es ist nötig, davon wegzukommen, da sollten neue frische Kräfte sein, Menschen, die in die Zukunft schauen und verstehen, was die Zukunft der Welt ist." Amerika sei ein kompliziertes Land, in dem jemand auf Bundesebene von Wahlen ausgeschlossen werden könne. Das sollte offenkundig auf Ex-Präsident Trump anspielen, zu dem er selbst eine "gute persönliche Beziehung" gehabt habe, sagte Putin. Am Donnerstag war in Russland der einzig halbwegs gefährliche Bewerber auf die russische Präsidentschaft ausgeschlossen worden, was aber ebenfalls kein Thema im Putin-Interview war.
Putins Sorge um seinen Auftragsmörder
Dagegen kamen Putin und Carlson wiederholt auf Deutschland zu sprechen. Beide waren sich einig, dass die USA die Nordstream-Pipelines in der Ostsee gesprengt hätten. "Die deutsche Regierung wird mehr vom Interesse des kollektiven Westens geleitet als vom nationalen Interesse, anders lässt sich ihr Verhalten nicht erklären", klagte Putin über das Ende von Deutschlands russischen Gas-Importen. Dabei hatte Russland diese zuerst gestoppt. Putin behauptete nun, man könne sie jederzeit wieder aufnehmen. Deutschland verliere durch die hohen Energiepreise seine Wettbewerbsfähigkeit. "Das sind hoch inkompetente Menschen", sagte Putin über die Ampel-Regierung.
Dennoch will auch er etwas von Berlin: Die Freilassung des "Tiergarten-Mörders" Vadim Krasikov, der im Sommer 2019 in Berlin einen Tschetschenen erschoss - offensichtlich im Auftrag Moskaus, womit auch Putin in Anspielungen kokettierte. Das Mordopfer soll im Tschetschenienkrieg mehrere russische Soldaten getötet haben. Putin kam von sich aus auf den in Deutschland inhaftierten Mann zu sprechen, den er nur als "Patrioten" bezeichnete. Dessen Heimkehr könne den Weg ebnen für die Freilassung des in Moskau inhaftierten US-Journalisten Evan Gershkovich.
Carlson hatte zuvor nach dessen Freilassung gefragt und Putin erklärt, dass ein Journalist kein Spion sei, auch wenn er vertrauliche Dokumente veröffentlichen wolle. Doch auf diese Diskussion wollte sich der russische Präsident nicht einlassen. Er sei für die Heimkehr des US-Amerikaners, doch über die Konditionen müssten sich die Geheimdienste verständigen. Die Bundesregierung lehnt eine Freilassung des Auftragsmörders ab. Putin scheint die Chance zu wittern, in dieser Frage einen Keil zwischen Berlin und Washington zu treiben.
Quelle: ntv.de