Politik

Der Kriegstag im Überblick Russen stürmen Sjewjerodonezk - Militärexperte sieht Westen am Scheideweg

Im Osten der Ukraine auf dem Vormarsch: Russischer Soldat in der Region Donezk.

Im Osten der Ukraine auf dem Vormarsch: Russischer Soldat in der Region Donezk.

(Foto: IMAGO/SNA)

Das ukrainische Militär bläst zum Rückzug aus Sjewjerodonezk. Kremlchef Putin und sein Vertrauter Medwedew kommentieren die global drohende Hungerkrise mit Zynismus. Kanzler Scholz glaubt Moskau beim Erdgas kein Wort und Wirtschaftsminister Habeck spart beim Duschwasser. Der 121. Kriegstag im Überblick.

Russischer Sturm hält Soldaten und Zivilisten fest

Trotz der Grundsatzentscheidung Kiews, das schwer umkämpfte Verwaltungszentrum Sjewjerodonezk im Osten der Ukraine aufzugeben, hängen in der früheren Großstadt immer noch regierungstreue Truppen und Zivilisten fest. Das geht aus dem Lagebericht des Generalstabs und aus Aussagen der Kreisverwaltung hervor. Die russischen Truppen "haben Sturmaktivitäten in der Industriezone von Sjewjerodonezk durchgeführt", teilte der Generalstab mit.

Laut dem Chef der Kreisverwaltung, Roman Wlassenko, wird der Abzug der ukrainischen Truppen noch einige Tage in Anspruch nehmen. Zudem sagte er im Interview mit dem US-Sender CNN, dass sich noch 568 Zivilisten in der Asot-Chemiefabrik vor den Angriffen versteckten. Diese könnten die Anlage verlassen, sobald das Feuer eingestellt sei, allerdings dann nur noch in Richtung russisch besetzter Gebiete, sagte Wlassenko.

Luftangriffe auf Lyssytschansk

Heikel für die ukrainischen Truppen ist die Lage auch in der benachbarten Stadt Lyssytschansk am Westufer des Flusses Siwerskyj Donez. Die Russen hätten mehrere Luftangriffe auf die Stadt geflogen, heißt es im Lagebericht. "Die ukrainischen Verteidiger haben erfolgreich einen Sturm am südlichen Stadtrand von Lyssytschansk abgewehrt", so der Generalstab weiter.

Das russische Verteidigungsministerium teilte dagegen mit, russische Truppen hätten die Stadt von Süden her blockiert. Die Verteidigungsstellungen ukrainischer Truppen seien durchbrochen worden, hieß es aus Moskau. Im Ballungsraum Sjewjerodonezk-Lyssytschansk lebten vor dem Krieg etwa 380.000 Menschen. Es ist der letzte Flecken im Gebiet Luhansk, auf dem sich noch ukrainische Truppen halten. Die Einnahme des Gebiets Luhansk war von Moskau als einss der Hauptziele des Kriegs genannt worden.

Militärexperte sieht Westen am Scheideweg

Der österreichische Militärexperte Markus Reisner sieht den Westen vor die Wahl gestellt: "Es gibt nur diese beiden Optionen: Entweder wir treten mit der Waffe in der Hand in diesen Krieg ein oder wir akzeptieren, dass sich Russland die Ukraine Stück für Stück einverleibt und möglicherweise später die baltischen Staaten angreift." Wolle der Westen seiner demokratischen Werteordnung treu bleiben, "müssten wir zur Verteidigung dieser Werte beginnen, den Aggressor zurückzuschlagen - auch mit militärischer Gewalt", sagte Reisner dem österreichischen Magazin "Profil".

Die Bundesregierung teilte mit, man wolle der Ukraine weitere Panzerhaubitzen zur Abwehr des russischen Angriffs überlassen. Dazu liefen Gespräche mit den Niederlanden sowie einem weiteren europäischen Partner. Das verlautete aus Kreisen des Verteidigungsministeriums in Berlin. Die Ukraine hat bisher sieben Stück der Panzerhaubitze 2000 aus Deutschland erhalten sowie fünf der Waffensysteme aus den Niederlanden. Aus Kiew war erklärt worden, dass man mit insgesamt 18 Haubitzen - also sechs weiteren Modellen - ein komplettes ukrainisches Artilleriebataillon ausrüsten könne. In Berlin gibt es den festen Willen, die Bitte zu erfüllen, wenn auch Partner liefern.

Medwedew und Putin spotten über Vorwürfe der Weizenblockade

Mit Spott reagierte der russische Ex-Präsident Dmitri Medwedew auf den Vorwurf von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, Russland setze den Hunger als Waffe ein. Eine solche Äußerung von einer deutschen Amtsträgerin sei "natürlich erstaunlich", erklärte Medwedew in einer auf Deutsch und Englisch verbreiteten Twitter-Botschaft. Dann schlug er ohne Umschweife den Bogen zu den Verbrechen Nazi-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion: Baerbock sei schließlich Vertreterin eines Landes, das "Leningrad 900 Tage lang in einer Blockade abriegelte, wo fast 700.000 Menschen an Hunger starben".

Russlands Präsident Wladimir Putin nannte die Diskussion um die Blockade ukrainischer Getreidelieferungen übertrieben. "Es wird künstlich eine Hysterie aufgeblasen wegen der Einstellung der Transporte, sagen wir mal, über die Schwarzmeerhäfen", sagte Putin nach Angaben der Agentur Interfax. Weder behindere Russland Getreidelieferungen, noch seien diese für die Versorgung der globalen Märkte entscheidend. Putin wirft der Ukraine einmal mehr vor, die Getreidelieferungen über das Schwarze Meer selbst zu hintertreiben. Russland sei bereit, den Schiffen freies Geleit zu gewährleisten. Zuvor müssten die Ukrainer jedoch die Minen in den eigenen Häfen räumen.

Ukraine bietet Deutschland Atomstrom an

Der ukrainische Energieminister German Galuschenko bot Deutschland die Lieferung von Atomstrom an. Seit dem 16. März habe die Ukraine ihr Energienetz mit dem Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber synchronisiert - "damit kann die Ukraine zum Outsourcer von Strom für Deutschland werden", schrieb Galuschenko in einem Gastbeitrag für die "Wirtschaftswoche". Dadurch entstehe "eine Art Versicherungspolster in Zeiten witterungsbedingt rückläufiger Erzeugung aus Solar- und Windkraftanlagen". Die Abkehr von russischer Energie sei für Deutschland "eine gigantische Herausforderung" und sie werde "immer drängender", schrieb der Minister weiter.

Scholz glaubt Kreml bei Gaslieferung nicht

Bundeskanzler Olaf Scholz hält die russische Begründung für die Drosselung der Gaslieferungen nach Deutschland für vorgeschoben. "Niemand von uns glaubt, dass die technischen Gründe, die für die Reduktion von Gaslieferungen gegenwärtig von russischen Lieferanten angeführt werden, zutreffen", sagte Scholz in Brüssel. Russlands staatlicher Energieriese Gazprom hatte Mitte des Monats die Gaslieferungen durch die Ostseepipeline Nord Stream 1 weiter runtergefahren. Der Gaslieferant begründete den Schritt mit Verzögerungen bei Reparaturarbeiten. Am 11. Juli beginnt eine zehntägige Routinewartung der Pipeline.

Habeck duscht kürzer

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck macht derweil ernst bei den eigenen Energiesparvorgaben. Seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs dusche er kürzer, sagte Habeck dem "Spiegel". "Ich halte mich an das, was mein Ministerium empfiehlt. Meine Duschzeit habe ich noch mal deutlich verkürzt", antwortete er auf die Frage, wie er Energie im Alltag spare. "Ich hab noch nie in meinem Leben fünf Minuten lang geduscht. Ich dusche schnell", sagte der Vizekanzler weiter. Der Grünen-Politiker hatte zuletzt wegen der reduzierten Gaslieferungen durch Russland mehrfach zum Energiesparen aufgerufen und auch eine entsprechende Kampagne ins Leben gerufen.

Angesichts drohender Gas-Engpässe rief auch EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen europäische Verbraucher zum Energiesparen auf. Wenn man die Heiztemperatur in der gesamten EU nur um zwei Grad senke und die von Klimaanlagen um zwei Grad erhöhe, könne man die gesamten Lieferungen der Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 einsparen, sagte die deutsche Politikerin nach einem EU-Gipfel in Brüssel. "Darin liegt also eine Menge Potenzial."

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Quelle: ntv.de, mau/dpa/rts

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