Lage im Osten "schwierig" Russland kontrolliert laut Selenskyj ein Fünftel der Ukraine
02.06.2022, 15:24 Uhr
Blickt vor allem auf die Situation im Osten seines Landes mit Sorge: der ukrainische Präsident Selenskyj. (Archivbild)
(Foto: dpa)
Dutzende Soldaten und Zivilisten fallen täglich dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine zum Opfer. Präsident Selenskyj sieht sich angesichts der militärischen Übermacht des Feindes zu einem historischen Vergleich bemüßigt. Er appelliert erneut an die NATO-Staaten, sein Land mit Waffen zu unterstützen.
In der Ukraine dauert der Krieg seit fast 100 Tagen an - und die russischen Streitkräfte kontrollieren inzwischen ein Fünftel des Landes. "Rund 20 Prozent unseres Territoriums sind nun unter Kontrolle der Besatzer", sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Im Osten des Landes werde die Lage immer schwieriger: "Wir verlieren täglich 60 bis 100 Soldaten." Seit Beginn des russischen Angriffskrieges am 24. Februar wurden Tausende Menschen getötet und mehrere Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer in die Flucht getrieben.
Das nun von Russland in der Ukraine kontrollierte Territorium sei bei weitem größer als die Fläche aller Benelux-Staaten zusammen, sagte Selenskyj in einer Ansprache vor dem Parlament in Luxemburg. Das Gebiet umfasse fast 125.000 Quadratkilometer, vor dem 24. Februar seien es gut 43.000 Quadratkilometer gewesen. Russland hatte 2014 die Halbinsel Krim annektiert, und im Osten kontrollierten seither die pro-russischen Separatisten rund ein Drittel der Bergbauregion Donbass.
Dem US-Sender Newsmax sagte der ukrainische Präsident am Mittwoch, die Situation im Osten sei "wirklich schwierig". Jeden Tag verzeichne die ukrainische Armee bis zu hundert getötete Soldaten und etwa 500 Verletzte. Nachdem der russische Militäreinsatz in den ersten Kriegswochen ins Stocken geraten war, konzentriert sich Russland seit Ende März auf die Eroberung des Donbass und die Schaffung eines durchgehenden Landkorridors im Süden bis zur Krim.
Hoffnung auf Waffen von NATO-Staaten
In der strategisch wichtigen Stadt Sjewjerodonezk in der Region Luhansk kontrollieren die russischen Streitkräfte mittlerweile "80 Prozent der Stadt", wie der Regionalgouverneur Serhij Gajdaj in der Nacht zum Donnerstag mitteilte. Ukrainische Soldaten halten sich noch im Industriegebiet der Stadt verschanzt. Sollte die Stadt vollständig in die Hände der russischen Streitkräfte fallen, hätten diese de facto die Kontrolle über die gesamte Region Luhansk.
Der ukrainische Armeechef Walerij Saluschnyj erklärte, in Luhansk seien seine Soldaten mit der derzeit "schwierigsten Situation" konfrontiert. "Der Feind hat einen operativen Vorteil in Bezug auf die Artillerie", sagte er in einem Telefonat mit dem französischen Generalstabschef Thierry Burkhard. Seiner Ansicht nach sollten die ukrainischen Truppen "so schnell wie möglich" auf Waffentypen der NATO umgestellt werden. "Das würde Leben retten", sagte Saluschnyj.
Die Ukraine hofft dabei auf die kürzlich von den USA zugesagten Mehrfachraketenwerfer, die über eine größere Reichweite und Präzision verfügen. Auch Deutschland will der Ukraine bis Ende Juni vier Mehrfachraketenwerfer vom Typ MARS II liefern. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte am Mittwoch zudem die Lieferung des modernen Luftverteidigungssystems IRIS-T-SLM angekündigt. Damit lasse sich "eine ganze Großstadt vor russischen Luftangriffen schützen", sagte der Kanzler.
Der Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrij Melnyk, der die Bundesregierung wegen zögerlicher Waffenlieferungen wochenlang harsch kritisiert hatte, lobte daraufhin die Ankündigungen von Scholz. "Wir sind glücklich darüber, dass nun endlich Bewegung in die Sache gekommen und das Eis gebrochen ist", sagte Melnyk der "Stuttgarter Zeitung" und den "Stuttgarter Nachrichten". "Gerade um das System IRIS haben wir uns hinter den Kulissen seit fast drei Monaten bemüht."
"Ist Europa fähig, seine Werte zu verteidigen?"
Nach den Worten Selenskyjs betrachtet sich sein Land schon jetzt als Teil der Europäischen Union. "Die Ukraine ist bereits de facto Mitglied der EU geworden", sagte der Präsident in der Videoansprache vor dem luxemburgischen Parlament. "Ich glaube, dass die Ukraine bereits durch ihr Handeln zeigt, dass sie die europäischen Kriterien erfüllt." Selenskyj zeigte sich überzeugt, dass sich Luxemburg dafür einsetzen werde, im Juni den offiziellen Status eines EU-Beitrittskandidaten zu erhalten und "in einem beschleunigten Verfahren EU-Mitglied zu werden".
"Europa steht vor einem großen Test. Ist Europa fähig, seine Werte zu verteidigen?" Ohne den russischen Präsidenten Wladimir Putin namentlich zu erwähnen, sagte der ukrainische Präsident: "Man muss diesen einzelnen Menschen daran hindern, die europäischen Werte zu zerstören. Wenn es uns nicht gemeinsam gelingt, diesen Mann zu stoppen, dann sind dies dunkle Stunden. Dunkle Stunden, die wir bereits im Zweiten Weltkrieg erlebt haben."
Selenskyj forderte weitere Sanktionen der EU gegen Russland und die Lieferung von "mehr Waffen, modernen Waffen". Der russische Angriff auf die Ukraine sei eine "Katastrophe von globalem Ausmaß, die uns an den Zweiten Weltkrieg erinnert, als die Bedrohung durch die Nazis auf ganz Europa lastete".
Quelle: ntv.de, fzö/AFP/dpa