Steuern oder aussteigen? SPD mit Titanic-Gefühlen
22.10.2009, 08:50 UhrKnapp einen Monat nach dem Debakel bei der Bundestagswahl bescheinigt der designierte SPD-Chef Gabriel seiner Partei einen "katastrophalen Zustand", die frühere hessische Spitzenkandidatin Ypsilanti verabschiedet sich aus der Parteispitze - vorläufig.
So langsam löst sich die Schockstarre bei der SPD, in die die Partei nach dem desaströsen Ergebnis der Bundestagswahl gefallen war. Für den Parteitag Mitte November hat nun die frühere hessische SPD-Chefin Andrea Ypsilanti ihren Rückzug aus dem Bundesvorstand ihrer Partei angekündigt. Sie werde in Dresden nicht zur Wiederwahl antreten, berichteten mehrere Medien unter Berufung auf einen persönlichen Brief Ypsilantis.
Ypsilanti räumt allerdings nicht ohne Angriffe auf die Parteispitze das Feld. In ihrem Brief schreibt sie, es müsse für die Partei in erster Linie um die geistige Herausforderung gehen, neue Zustimmung zu erhalten. "Die bloße Auswechselung der jeweiligen Parteiführung ist kein Ersatz dafür." Dass sich die SPD-Führung trotz des "Tiefschlags in der Bundestagswahl" zunächst auf Personalfragen fixiert habe, "zeigt erneut in hohem Maße das analytische Defizit".
Friendly Fire in Wiesbaden
Die ehemalige hessische Spitzenkandidatin beklagte auch mangelnde Unterstützung für ihren am Widerstand aus den eigenen Reihen gescheiterten Versuch, eine von den Linken tolerierte rot-grüne Minderheitsregierung zu bilden. "Die hessische SPD und insbesondere ich als Person" seien "systematisch" von denen diskreditiert worden, die mit "inhaltlichen Wortbrüchen" wie bei Teilen der Agenda 2010 zum Identitätsverlust der SPD und in der Folge zu hunderttausenden Parteiaustritten und serienmäßigen Niederlagen beigetragen hätten. Die Verantwortlichen hätten keine Konsequenzen daraus gezogen. Sie hätten die moderne Form der Verantwortungsübernahme vorgezogen, "nämlich in einem Führungsamt zu bleiben oder nahtlos ein neues anzustreben".
Ypsilanti versicherte in dem Brief zugleich, ihr Verzicht auf eine erneute Kandidatur sei kein Rückzug aus der Politik. Auf mittlere Sicht schließe sie eine erneute Bewerbung für Vorstandsämter nicht aus.
Liebe Genossen

Sigmar Gabriel steht bald an der Spitze der SPD - und will eine Partei hinter sich wissen, die sich nicht selbst zerfleischt.
(Foto: picture-alliance/ dpa)
Unterdessen kümmert sich der künftige Parteivorsitzende Sigmar Gabriel um die Seele der Partei. "Unsere SPD befindet sich in einem katastrophalen Zustand", schrieb Gabriel laut "Süddeutscher Zeitung" in einem Brief an die Parteibasis. Die Sozialdemokraten würden "lange brauchen" um sich davon zu erholen. Die Partei brauche nun insbesondere eine "ruhige und ehrliche Analyse" der Regierungszeit, aber auch eine Aufarbeitung "des Zustands der Parteiorganisation in den letzten 20 Jahren".
Gabriel forderte dem Bericht zufolge "eine richtige Strukturreform der SPD", mit der "wir vor allem wieder Meinungsbildung von unten nach oben schaffen (ohne politische Führung abzuschaffen)". In diesem Zusammenhang stellte er Urabstimmungen "ab und an bei wichtigen Entscheidungen" in Aussicht. Weitere Vorschläge sollten auf dem Bundesparteitag Mitte November in Dresden vorgestellt werden, der ein "Startschuss" sein solle. Weiter hieß es in Gabriels Brief, die SPD sei "zu einer Partei geworden, in der die Mitglieder meist zu Förder-Mitgliedern degradiert wurden: ohne jeden wirklichen Einfluss". Eigentlich aber sei Politik doch "führen UND sammeln. In den letzten Jahren haben wir nur geführt, nie gesammelt".
Einstimmung auf harte Zeiten

Sigmar Gabriel (l) wird den jetzigen SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering an der Spitze der Parteiführung ablösen.
(Foto: AP)
In dem Brief sagte Gabriel seiner Partei einen langen, mühsamen Weg voraus. Er kritisierte, dass die SPD sich in den vergangenen Jahren "tief gespalten hat in Flügel". "Wenn wir die SPD nicht endgültig zerstören wollen als Volkspartei, dann muss damit endlich Schluss sein", fügte er dem Bericht zufolge hinzu. Gabriel räumte zugleich mit Blick auf die Linkspartei ein, dass die Auseinandersetzung mit der unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder beschlossenen Reform-"Agenda 2010" in der SPD "wie ein Treibsatz gewirkt und letztlich das Entstehen einer zweiten Abspaltung (nach den Grünen in den 70er Jahren) bewirkt" habe.
Zugleich stellte Gabriel seine Genossen darauf ein, dass die Erneuerung der Partei einige Zeit in Anspruch nehmen werde. "Die Früchte unserer Arbeit wird wohl eher die nach uns kommende Generation von Sozialdemokraten ernten", schloss er sein Schreiben.
Quelle: ntv.de, sba/AFP/dpa