Wulff kann aufatmen Sarrazin geht freiwillig
10.09.2010, 07:14 Uhr
Sarrazin wollte sich nicht "mit der gesamten politischen Klasse in Deutschland anlegen".
(Foto: picture alliance / dpa)
Bundespräsident Wulff bleibt die Entscheidung über eine Entlassung von Bundesbankvorstand Sarrazin erspart - der 65-jährige Notenbanker scheidet freiwillig aus dem Amt. Im Gegenzug verzichtet die Bank auf ihre Vorwürfe gegen Sarrazin. Dieser betont, die Reihenfolge der Ereignisse sei wichtig.
Der wegen seiner Thesen zur Genetik und zur Integration von Ausländern umstrittene SPD-Politiker Thilo Sarrazin tritt von seinem Posten als Vorstandsmitglied der Bundesbank zurück. Sarrazin habe Bundespräsident Christian Wulff um eine Auflösung seines Vertrags gebeten, teilten Bundesbank und Sarrazin selbst mit.
"Der Vorstand der Deutschen Bundesbank und das Vorstandsmitglied Dr. Thilo Sarrazin sind sich ihrer Verantwortung für die Institution Deutsche Bundesbank bewusst", heißt es in der Erklärung der Bundesbank. Die Zusammenarbeit werde zum Monatsende "einvernehmlich" beendet.
Wulff bleibt damit eine schwierige Entscheidung erspart. Der Sprecher des Bundespräsidenten, Olaf Glaesecker, erklärte: "Der Bundespräsident wird dem Antrag von Herrn Dr. Sarrazin entsprechen und begrüßt die einvernehmliche Lösung mit der Deutschen Bundesbank."
Zu den Einzelheiten der Einigung machte die Bundesbank keine Angaben. "Beide Seiten werden sich in dieser Angelegenheit nicht mehr äußern", heißt es in der Erklärung. Arbeitsrechtler hatten bezweifelt, dass Sarrazins Äußerungen einen Rausschmiss arbeitsrechtlich rechtfertigen könnten. Sarrazins Amtszeit begann im Mai 2009 und sollte regulär 2014 enden.
Der Deal
Hintergrund des Rücktritts ist ein Deal: Die Bundesbank zieht nicht nur ihren Antrag auf Abberufung Sarrazins zurück, sondern distanziert sich auch von einer Pressemitteilung vom 30. August. Man halte die darin gemachten "wertenden Ausführungen" nicht aufrecht, teilte der Vorstand mit. Nicht rückgängig gemacht wird die Entscheidung, Sarrazin die Bereiche Informationstechnologie, Risiko-Controlling und Revision zu entziehen. Der SPD-Politiker wird bis zum Ende des Monats weiterhin ohne Geschäftsbereich bleiben.
Am 30. August hatte die Bundesbank sich "entschieden von diskriminierenden Äußerungen" Sarrazins distanziert. Sarrazin habe sich "mehrfach und nachhaltig provokant geäußert, insbesondere zu Themen der Migration". Diese Äußerungen stünden "in keinem Zusammenhang mit den Aufgaben der Deutschen Bundesbank".
"Aufgrund ihrer besonderen Stellung sind die Mitglieder des Vorstandes der Deutschen Bundesbank verpflichtet, bei politischer Betätigung diejenige Mäßigung und Zurückhaltung zu wahren, die sich aus ihrer Stellung gegenüber der Gesamtheit und aus der Rücksicht auf die Pflichten ihres Amtes ergeben", hieß es weiter in der Erklärung vom August. "Diese Verpflichtung missachtet Dr. Sarrazin mit seinen Äußerungen fortlaufend und in zunehmend schwerwiegendem Maße."
"Das ist die Reihenfolge"
Sarrazin äußerte sich bei einer Buchvorstellung in Potsdam dann doch. Er betonte, die Reihenfolge sei wichtig. Zunächst habe der Bundesbankvorstand seinen Vorwurf zurückgezogen, dass er Ausländer beleidigt habe. Dann habe die Bundesbank die Bitte an den Bundespräsidenten, ihn seines Amtes zu entheben, zurückgezogen. Danach habe er selbst den Bundespräsidenten gebeten, ihn zum 30. September von seinem Amt zu entbinden. "Das ist die Reihenfolge."
Er haben in den vergangenen 14 Tagen "massiven Druck" gespürt, sagte Sarrazin. "Das war für mich nicht einfach." Er habe "ein wichtiges Sachthema" und habe sich überlegt, ob er es sich leisten könne, sich "mit der gesamten politischen Klasse in Deutschland anzulegen", sagte Sarrazin. "Diese Situation hält auf Dauer keiner durch." Jetzt könne er noch auf vielen Veranstaltungen auftreten, ohne dass man sage, der Bundesbankvorstand spreche.
Jubel und Protest
In Potsdam begann Sarrazin begleitet von Jubel und Protesten seine bundesweite Lesereise. Im ausverkauften Nikolaisaal las der ehemalige Berliner Finanzsenator vor etwa 700 Gästen aus seinem Buch "Deutschland schafft sich ab". Das Publikum im Saal empfing den 65-Jährigen überwiegend mit Applaus; einige jubelten und begrüßten den Redner mit "Standing Ovations".
Vor dem Gebäude protestierten dagegen zahlreiche Menschen unter dem Motto "Keine Toleranz gegen Rassisten" gegen den Leseabend. "Ich und viele meiner Kollegen haben Wut im Bauch", sagte ein Berliner, der vor 25 Jahren als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland gekommen war und seitdem bei Siemens arbeitet. "Sarrazin schafft sich ab" stand auf einem Transparent an der Fassade eines Nachbarhauses.
Andere Demonstranten gaben sich als Sarrazin-Befürworter zu erkennen. Darunter waren auch einige Anhänger der rechten Szene. Die Polizei erteilte ihnen Platzverweise. Weitere Zwischenfälle habe es zunächst nicht gegeben, sagte ein Polizeisprecher.
Quelle: ntv.de, hvo/dpa