Andrij Melnyk im "ntv Frühstart" "Stehen vor dem Abgrund eines riesigen Krieges in Europa"
22.02.2022, 11:39 Uhr
Der ukrainische Botschafter spricht von einer Kriegserklärung Russlands - an die Ukraine und die gesamte freie Welt. Noch setze man auf Diplomatie, sagt Andrij Melnyk im "ntv Frühstart". Aber im Falle einer Panzerattacke auf ukrainischem Territorium müsse sein Land "wahrscheinlich zurückschießen".
Die Rede des russischen Präsidenten Putin ist auch in der ukrainischen Botschaft in Berlin genauestens verfolgt worden. Botschafter Andrij Melnyk sagte, alle Zweifel seien nun beseitigt. "Das war eindeutig eine Kriegserklärung, eine offene Ansage. Und nicht nur an die Ukraine." Letztlich, so Melnyk im Gespräch mit ntv, handele sich um eine "neue Ansage" an die gesamte freie Welt. "An die Bundesrepublik, an ganz Europa, dass man endlich aufwachen muss und nicht blauäugig bleiben sollte."
Bis zur letzten Minute habe man, sagte Melnyk, Putin Glauben geschenkt. "Noch vor einer Woche war Kanzler Scholz in Moskau und man hatte das Gefühl, es gibt eine gewisse Entspannung, eine Entwarnung. Und nach einer Woche stehen wir tatsächlich vor dem Abgrund eines riesigen Krieges mitten in Europa", sagte Melnyk weiter.
Der ukrainische Botschafter bestätigte, dass "die ersten Panzer, schweres militärisches Gerät" noch in der Nacht in die Regionen von Donezk und Luhansk geschickt worden seien - in die offenbar von Russland kontrollierten Gebiete in der Ostukraine. Melnyk: "Putin hat nun offiziell anerkannt - da sind alle Masken gefallen -, dass die Russen von Anfang an das Sagen hatten. Das ist ein Schlag ins Gesicht der Ukraine und der Bundesrepublik. Man hatte uns alle an der Nase herumgeführt."
Armee würde auf Panzer reagieren
Trotz allem setzt Melnyk weiter auf Diplomatie. "Wir werden Putin keinen Anlass geben, weiter zu intervenieren. Wir glauben, dass die Diplomatie nach wie vor eine Chance hat, einen größeren Krieg zu vermeiden."
Wann und ob die Ukraine militärisch reagieren werde, sei - so Melnyk - "eine schwierige Entscheidung". Man lebe seit Jahren mit Beschuss in der Ostukraine, zuletzt habe es 2.000 Fälle pro Tage gegeben. Melnyk: "Wenn es eine Panzerattacke geben wird, was wir nach wie vor nicht hoffen, dann wird das ein Punkt sein, wo die ukrainische Armee wahrscheinlich keine andere Wahl haben wird, als zurückzuschießen. Wir sind auf unserem Land, wir müssen unsere Heimat verteidigen, mit allen Mitteln." Das Recht und die Wahrheit seien aufseiten der Ukraine. "Und wir hoffen, dass uns die Verbündeten nicht im Stich lassen."
Den Vorwurf Putins, die NATO habe sich trotz gegenteiliger Beteuerungen zu weit nach Osten ausgedehnt, wertet Melnyk als "schöne Ausrede". 2008 sei der Ukraine der Weg in die NATO eröffnet worden. Doch in den Jahren danach sei alles unternommen worden, genau diesen Weg zu versperren. Die Aussage des deutschen Bundeskanzlers in Moskau, die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine stehe nicht auf der Tagesordnung, habe "verheerende Auswirkungen" in der Ukraine gehabt. Die Beschwichtigungspolitik der Bundesrepublik der letzten Jahre habe keine Früchte getragen. Jetzt müsse man umsteuern. Melnyk: "Putin hat ja Herrn Scholz, wenn man das salopp sagen könnte, ins Gesicht gespuckt, gestern bei dieser Kriegserklärung."
Kiew braucht Geld
Ein großer Krieg sei wahrscheinlicher denn je. Um diesen zu verhindern, reichten keine Reden oder Reisen, sondern man müsse agieren. Melnyk forderte vom Westen und Deutschland umgehend Sanktionen. Kiew habe Berlin bereits am 2. Dezember eine Liste möglicher Maßnahmen übermittelt. Dazu zählte Melnyk den Ausschluss Russlands aus dem Zahlungssystem SWIFT, den Stopp von Nord Stream 2, ein Embargo auf Importe von wichtigen Rohstoffen wie Gas, Kohle, Öl und Aluminium sowie das Einfrieren der Konten russischer Oligarchen in der gesamten Welt. Melnyk erwartet, dass der Westen mit einer Stimme spricht und Russland isoliert. "Man hat zu lange gesprochen, man hat zu lange auf Diplomatie und Dialog gesetzt. Das hat wenig gefruchtet."
Schließlich wäre die Ukraine dankbar für ein milliardenschweres Hilfsprogramm, um die eigene Resilienz zu stärken. "Wir haben jeden Monat drei Milliarden Euro verloren wegen dieser Panikmache", sagte Melnyk. Sein Land brauche makroökonomische Hilfe, Garantien für Investitionen und die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit. Man wolle erneut an die Bundesregierung, den Bundestag, die deutsche Gesellschaft appellieren, die Ukraine zu verstehen. "Wir stehen da nicht ganz wehrlos, aber die deutschen Defensivwaffen würden uns in die Lage versetzen, diesen möglichen großen Angriff abzuwehren."
Deutschland sei der viertgrößte Waffenexporteur weltweit und die deutschen Unternehmen produzierten die modernsten Waffen der Welt. Die von der Bundesregierung in Aussicht gestellten 5000 Helme seien immer noch nicht eingetroffen. Melnyk: "Wir hoffen, dass die rechtlichen Fragen in den nächsten Tagen geklärt werden." Aus der Bundesregierung hieß es am selben Tag, die Helme seien zur Auslieferung bereit, es fehle aber noch immer eine Lieferadresse aus Kiew.
Quelle: ntv.de, cwi