Person der Woche: Macron Der Möchtegern-Anführer führt Europas Schwäche vor
22.02.2022, 10:02 Uhr

Macron wäre gerne derjenige gewesen, der den aktuellen Konflikt verhindert hätte.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Putins Aggressionspolitik entlarvt die Schwäche der Europäischen Union. Militärisch ist man ganz auf die USA angewiesen und politisch ohne Führung. London geht eigene Brexit-Wege, Berlins Ampelregierung wirkt wankelmütig. Macron übernimmt zwar demonstrativ Europas Führungsrolle, die 16 Jahre bei Angela Merkel lag. Doch er hat etwas ganz Eigenes im Sinn.
Der Zeitpunkt für Russlands weiter verschärfte Aggressionspolitik in Europa ist kein Zufall. Wladimir Putin nutzt einen besonderen Moment der machtpolitischen EU-Schwäche: Großbritannien bricht aus dem EU-Verbund und steckt noch immer inmitten der Brexit-Bewältigung, Frankreich ist mit Präsidentschaftswahlen befasst und in Deutschland ist Angela Merkel abgetreten, die neue Ampelregierung noch nicht fest im Sattel. Allesamt sind militärisch derzeit schwach und in wichtigen Fragen uneins - vom Brexit über die Atom-Energiefrage bis zur Nord-Stream-2-Pipeline. Putins Kalkül war: In dieser Lage wird sich ihm keine europäische Macht entschieden in den Weg stellen.
Dass es Deutschland als größte Macht Europas beispielsweise fertigbringt, einzig 5000 Helme in die Ukraine zu schicken, bestätigt Putins Einschätzung der peinlichen Lage für die EU. In Moskau sprechen Polit-Strategen seit Wochen von einem "Vakuum" im Machtzentrum Europas - einzig die USA werden als Machtfaktor ernst genommen. Auch deshalb sind die von europäischer Seite beförderten Gesprächsformate "Trilaterale Kontaktgruppe" (OSZE, Ukraine, Russland) und "Normandie-Format" (Deutschland, Frankreich, Ukraine und Russland).
Ein EU-Verhandler ohne EU-Mandat
Seit einigen Wochen versucht Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zwar demonstrativ, das europäische Machtvakuum zu füllen. Er will die kommende Polit-Hierarchie in Europa neu definieren - und geriert sich als machtpolitischer Erbfolger von Angela Merkel und neue Führungsfigur des Kontinents. In Paris hält man die neue Bundesregierung noch nicht für schlagkräftig formiert, der neue Bundeskanzler Olaf Scholz wird im Umfeld Macrons als schwächer eingeschätzt als Merkel und die Ampelkoalition gilt als labil.
Macron kommt dabei zupass, dass Frankreich seit dem 1. Januar 2022 den EU-Ratsvorsitz innehat. Die Rolle des neuen Ansagers hat Macron bereits in der Energiepolitik demonstriert, als er die EU-Mehrheit hinter seinen Atomkurs versammeln konnte - und insbesondere die neue, klimapolitisch bewegte Ampelregierung in Berlin regelrecht düpiert hat.
In der Russlandfrage will Macron nun ein zweites Mal demonstrieren, dass die Gestaltungsmacht nun bei ihm liegt. Allzu gerne hätte er sich als Friedensstifter Europas inszeniert. Doch Macron spielt zu offensichtlich auf Außenwirkung. Seiner Telefondiplomatie mit Moskau, die medienwirksam kommuniziert worden ist, fehlt der strategische Plan. Die Ankündigung des Élysée-Palasts, Macron habe ein neues Gipfeltreffen zwischen Putin und Biden arrangiert (das in Paris oder Helsinki, am liebsten aber in Paris hätte stattfinden sollen) und ein Friedensweg sei möglich, war nicht nur verfrüht: Sie war eine krasse Fehleinschätzung, ja offensichtlich Angeberei.
"Starker Wunsch, der Held zu sein"
Der Vorgang ist nicht nur für Berlin ärgerlich, für Europa ist es eine weitere Schwächung der eigenen Rolle, denn es entlarvt die Ohnmacht der EU. Paris hatte schlichtweg kein offizielles Mandat der EU-Partner, in ihrem Namen über "die Sicherheit und strategische Stabilität in Europa" zu verhandeln. So spottete die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas in der Wochenendausgabe der "Financial Times" über Macron: "Ich habe das Gefühl, da gibt es den starken Wunsch, der Held zu sein, der diesen Fall löst. Aber ich glaube nicht, dass sich das so lösen lässt. Es scheint mir da eine gewisse Naivität gegenüber Russland zu geben." Sie habe das Emmanuel Macron auch gesagt und ihn vor Putin gewarnt.
Der Grund für die Blendwerk-Politik liegt im französischen Präsidentschaftswahlkampf, der ausgerechnet jetzt in seine heiße Phase eintritt. Bis zum 4. März müssen sich die Kandidaten und Kandidatinnen zur Wahl angemeldet haben, der erste Wahlgang findet am 10. April statt. Macron liegt in den Umfragen derzeit zwar mit rund 25 Prozent vorne, seine beiden rechten Herausforderer Marine Le Pen und Eric Zemmour sowie die bürgerlich-konservative Valérie Pecresse liegen mit 14 bis 18 Prozent klar dahinter.
Macron ist freilich weit von einer absoluten Mehrheit im ersten Wahlgang entfernt, und wenn das konservativ-rechte Lager sich formieren sollte, wird es eng für ihn. Die beiden Bewerber mit den meisten Stimmen gehen in die Stichwahl am 24. April. Für Macron ist daher das Image des außenpolitisch erfolgreichen Staatsmanns derzeit besonders wichtig.
Militärisch nicht auf Augenhöhe
Doch Putin beeindruckt das alles wenig. Er baut auf schiere militärische Macht und setzt sie ein. Dabei hat Russland 850.000 Soldaten unter Waffen und 12.420 Panzer, Deutschland hingegen steht mit aktuell 184.000 Soldaten und 266 Panzern militärisch schwach da. Zusammen mit den 406 französischen Panzern kommen die beiden wichtigsten Mächte Europas auf gerade einmal 672 Panzer - macht 5,4 Prozent der russischen Panzerkraft. Russland verfügt zugleich über ein komplettes Atomraketenarsenal mit 6257 atomaren Sprengköpfen. Dem hat Deutschlands gar nichts, Frankreich gerade einmal 290 Sprengköpfe und veraltete Raketen entgegenzusetzen.
Fazit: Putin nimmt die Europäer als Verhandlungspartner schlichtweg nicht Ernst. "Wir sind eine der wichtigsten, wenn nicht sogar die wichtigste, normative Macht auf der Welt", hatte der EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso einmal geprahlt. Die normative Macht schwindet, und realpolitisch ist die EU inzwischen eine der ohnmächtigsten Großmächte der Welt. Die Wahrheit ist bitter: Europa ist nicht einmal in der Lage, die Ukraine oder auch nur sich selbst zu verteidigen. Es stolpert durch die Krise und ist völlig vom Schutzschirm der USA abhängig - egal wer sich nun gerade als Leitfigur der Europäischen Union positioniert.
Quelle: ntv.de