Obachlose und die Wahl Stimmen von der Straße
21.09.2009, 09:59 Uhr
Viele Obdachlose resignieren angesichts des hohen bürokratischen Aufwands, um zur Wahl gehen zu können.
(Foto: AP)
Es ist kalt und regnerisch an diesem Morgen in Bielefeld. Der Obdachlose Michael Sch. sitzt in der "Kava" mit einem Brötchen und einem Kaffee in der Hand. Die "Kava" ist ein "Treffpunkt für Menschen in besonderen Lebenslagen", wie es an der Eingangstür heißt. Darin große, runde Tische, an denen Männer sitzen. Nebenan ein kleineres Zimmer mit Billardtisch. Der 47 Jahre alte Michael Sch. hat die vergangene Nacht wieder mal auf der Straße verbracht. Müde schaut er aus, seine Augen sind gerötet. Ob er zur Bundestagswahl am Sonntag geht? Die Frage reißt ihn aus seiner Lethargie: "Natürlich werde ich wählen gehen", sagt er bestimmt.
"Leute, die nicht wählen, kann ich nicht verstehen. Die können doch gar nicht mitbestimmen." Martin Sch. war früher mal Kfz-Mechaniker bei der Bundeswehr. Ein schwerer Motorradunfall und die Krebserkrankung seiner Mutter warfen ihn aus der Bahn. Er häufte eine Menge Schulden an, sein Vermieter setzte ihn vor die Tür. Einen Fernseher oder ein Zeitungs-Abo hat er nicht. Das TV-Duell zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und SPD- Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier konnte er nicht verfolgen. Was die einzelnen Parteien auf Bundesebene fordern, weiß er nicht.
Austausch auf der Straße
Doch wie dann eine Entscheidung für die kommende Wahl treffen? "Wir Obdachlosen informieren und tauschen uns auf der Straße aus." Vor allem die Kommunalwahlen waren für ihn deshalb besonders wichtig. Er war sogar ein paar Mal bei den Ratssitzungen der Stadt. "Aber da darf man ja nichts sagen. Sonst wird man sofort rausgeschmissen." Für den Sonntag hat sich Michael Sch. dennoch festgelegt: "Wenn ich zur Bundestagswahl gehe, dann wähle ich aus Tradition eine ganz bestimmte Partei." Seine Partei aus dem früheren Leben also, als er noch Familie und Arbeit hatte.
Mehr als 62 Millionen Menschen sind am Sonntag wahlberechtigt. Genaue Zahlen, wie viele Obdachlose darunter sind, gibt es nicht. Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe in Bielefeld geht von mindestens 10.000 bis 20.000 aus. "Eine Obergrenze können wir aber nicht nennen, da die Zahl täglich variiert", sagt der Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft, Thomas Specht. Wieviele davon wählen werden, weiß auch der Bundeswahlleiter nicht.
Bürokratische Hürden
Die Bürokratie macht es den Obdachlosen nicht leicht, zur Wahl zu gehen. Weil sie keinen festen Wohnsitz haben, müssen sie sich zunächst beim örtlichen Wahlamt in das Wählerverzeichnis eintragen und durch zahlreiche Formulare arbeiten. "Viele machen sich einfach nicht die Mühe, den Antrag zu stellen", sagt Johannes U., 62 Jahre alt und ebenfalls regelmäßiger Gast in der "Kava". "Sie resignieren."
Wenn Michael Sch. erzählt, dann scheint es, als seien alle gegen ihn: die Politiker, die Behörden, die Polizei. "Reine Schikane. Diskriminierung von Obdachlosen", schimpft er dann. Die Hoffnung auf eine politische Wende und eine bessere Zukunft hat er nicht verloren. "Es muss sich etwas ändern. Deshalb gehe ich wählen." Und welches Projekt sollte die neue Bundesregierung als erstes in Angriff nehmen? "Als Erstes brauch' ich eine Wohnung", sagt er und grinst.
Quelle: ntv.de, Marcel Mund, dpa