Partnerschaft unter Beschuss Syrien-Krieg entzweit Erdogan und Putin
04.02.2020, 15:19 Uhr
Rauschschwaden steigen auf nach einem Luftangriff auf die Stadt Sarmin in Idlib - mutmaßlich ausgeführt von der russischen oder syrischen Luftwaffe.
(Foto: picture alliance/dpa)
Nächste Wendung im seit neun Jahren tobenden Syrien-Konflikt: Türkische und syrische Soldaten beschießen und töten einander. Assads Schutzmacht Russland scheint nicht länger gewillt, im Interesse der Türkei die letzte Rebellenhochburg Idlib zu schonen - zum Leidwesen von Millionen Menschen.
Zahlreiche Länder sind im Syrien-Konflikt direkt involviert und verfolgen dort vor allem eigene Interessen. Zwei besonders gewichtige Akteure stehen in Syrien zwar auf unterschiedlichen Seiten, sind bislang aber ungeachtet dessen auch internationale Partner: Russland und die Türkei. Deren Zusammenarbeit steht nach den Ereignissen vom Montag in Frage. Ein Hintergrund, mit den Antworten auf die wichtigsten Fragen:
Wie kam es zur jüngsten Eskalation?
Die Türkei hat nach Angaben ihres Präsidenten Recep Tayyip Erdogan am Montag F-16-Kampfjets nach Syrien geschickt, die dort auf Dutzende Ziele feuerten, die der syrischen Armee zugerechnet wurden. Der Regierung in Ankara zufolge wurden dabei zwischen 35 und 76 syrische Soldaten getötet beziehungsweise "neutralisiert", was auch Verletzte einschließen könnte.
Syriens staatliche Nachrichtenagentur Sana hingegen bestätigte zwar türkische Angriffe. Getötet worden sei dabei aber niemand. Russland, das als wichtigster Verbündeter von Syriens Machthaber Baschar al-Assad den Luftraum des Landes kontrolliert, bestritt zudem, dass türkische Flugzeuge in den syrischen Luftraum eingedrungen seien. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, die der syrischen Opposition nahesteht, wiederum berichtete, dass bei den türkischen Angriffen mindestens 13 syrische Soldaten getötet und 20 weitere Soldaten verletzt worden seien.
Wieso lässt Erdogan seine Armee auf syrische Truppen los?
In der Nacht zu Montag waren nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums fünf Militärangehörige und drei zivile Mitarbeiter getötet worden. Zudem wurden demnach sieben weitere Soldaten verletzt, als sie unter Artilleriebeschuss der syrischen Armee gerieten. Das hätte eigentlich nicht passieren dürfen, weil Erdogan und das Assad-Regime zwar miteinander über Kreuz liegen. Erdogan und Assad-Beschützer Wladimir Putin jedoch suchen immer wieder den Schulterschluss. Sie hatten sich trotz ihrer diametral entgegengesetzten Syrien-Politik darauf verständigt, einander über Truppenbewegungen zu informieren, um direkte Auseinandersetzungen zu vermeiden. Ankara behauptet, Moskau auch über die türkischen Truppenbewegungen in der Nacht zu Montag informiert zu haben. Die russische Regierung bestreitet das.
Wo und wieso begegnen sich die Armeen überhaupt?

Putin und Erdogan haben wiederholt versucht, gemeinsam den Syrien-Konflikt zu beenden, scheitern aber an ihren unterschiedlichen Interessen in der Region.
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Die türkischen Soldaten wurden in der Provinz Idlib beschossen, wo die Türkei zwölf Wachposten unterhält. Von dort aus überwacht die Türkei die sogenannte Deeskalationszone im Nordwesten Syriens. Diese geht auf eine Vereinbarung im Jahr 2017 zurück. Im September 2018 konnte Erdogan Putin überzeugen, eine pro-syrische Offensive gegen das Gebiet abzubrechen. Idlib ist nach fast neun Jahren Bürgerkrieg in Syrien das letzte große Rebellengebiet. Kontrolliert wird es von der Al-Kaida-nahen Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS), die Unterstützung aus der Türkei erhalten soll.
Doch das Assad-Regime hat sich wiederholt entschlossen erklärt, alle syrischen Gebiete wieder bedingungslos unter seine Kontrolle bringen zu wollen. Seit zwei Wochen rücken syrische Truppen mit Unterstützung der russischen Luftwaffe massiv in Idlib vor. Die Türkei verstärkte ihrerseits ihre Truppenpräsenz in dem Gebiet, offenbar fest entschlossen, die Offensive aufzuhalten.
Welche Interessen verfolgt Erdogan in Syrien?
Abgesehen von dem Geschäft mit syrischem Öl und Gas, das für alle Konfliktparteien schon allein zur Finanzierung des Krieges von Interesse ist, beschäftigen die türkische Regierung vor allem drei Ziele. Erstens soll sich an ihrer Grenze kein autonomer Kurdenstaat bilden, der die Unabhängigkeitsbestrebungen türkischer Kurden politisch, wirtschaftlich und militärisch unterstützen könnte. Zweitens ist die Türkei mit ihren geopolitischen Ambitionen in der Region ein Gegenspieler des Assad-Partners Iran, der sich auch in anderen langjährigen türkischen Einflusssphären wie Irak und Libanon zu einem einflussreichen Akteur aufgeschwungen hat.
Drittens aber bereiten Erdogan die Millionen Binnenflüchtlinge im Nordwesten Syriens Sorge. Helfer beklagen eine dramatische humanitäre Lage in Idlib. Damit erhöht sich der Druck auf die Türkei, die ihre Grenzen geschlossen hält - auch im Interesse und mit Unterstützung der EU. Die Türkei beherbergt 3,6 Millionen syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge. Weil in der türkischen Bevölkerung der Rückhalt hierfür schwindet, will Ankara Flüchtlinge zurückführen anstatt noch mehr aufzunehmen.
Wie geht es in Idlib weiter?
Die Türkei schickte am Wochenende etliche Militärfahrzeuge in die Provinz Idlib. Erdogan drohte unlängst mit einer Militäroffensive im Nordwesten Syriens, sollte die Lage in Idlib nicht sofort geklärt werden. Am Montag bezeichnete er die Lage als "unkontrollierbar". Auch die syrische Armee setzt ihre Offensive unvermindert fort.
Für die Zivilisten eine Katastrophe: Mitten im Winter müssen immer mehr Vertriebene in Idlib versorgt und untergebracht werden. In dem Gebiet mit vor dem Krieg 1,5 Millionen Einwohnern halten sich mehr als drei Millionen Menschen auf. Viele sind vor Assads Truppen geflohen, kommen aber auch nicht in die Türkei. Nach UN-Angaben sind seit dem 1. Dezember 520.000 Menschen vor der syrischen Offensive in Idlib geflohen.
Was bedeutet die Eskalation für das türkisch-russische Verhältnis?
Erdogan und Putin einte in den vergangenen Jahren nicht zuletzt ihre gewachsene Distanz zu den westlichen Staaten, Nato-Mitgliedschaft der Türkei hin oder her. In der Sache gibt es durchaus heftige Differenzen. Moskau ist ein Partner Teherans, die Türkei ein Rivale der Islamischen Republik. Russland unterstützt im Libyen-Konflikt aktiv die Milizen um den abtrünnigen General Chalifa Haftar, während Erdogan Truppen entsandte zur Unterstützung der von der UNO anerkannten Einheitsregierung von Ministerpräsident Fajes al-Sarradsch. Am Montag besuchte Erdogan zudem die Ukraine und bekundete seine Solidarität mit der muslimischen Minderheit der Krim-Tataren. Er bekräftigte frühere Aussagen, wonach die Türkei die Annexion der ukrainischen Halbinsel durch Russland nicht anerkennen werde.
Nun wackeln zusätzlich alle mühsam verabredeten Vereinbarungen zum Syrienkonflikt. Am Dienstag berichtete die russische Nachrichtenagentur Sputnik, dass türkische Soldaten nicht zu den gemeinsamen Patrouillenfahrten mit russischen Soldaten erschienen seien, mit denen beide Seiten einen 30 Kilometer breiten Korridor überwachen, der die syrischen Kurden von der türkischen Grenze fernhalten soll.
Mit Russland getroffene Vereinbarungen zu einer friedlichen Lösung in Syrien seien "zwar nicht vollständig zum Erliegen gekommen, aber allmählich tragen sie Verletzungen davon und verlieren an Bedeutung", sagte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu am Dienstag. Er forderte eine Rückkehr zur Waffenruhe, den Start eines Verfassungsprozesses in Syrien sowie sichere Rückkehrkorridore für syrische Flüchtlinge aus der Türkei. Fraglich ist, was Putin der Türkei zur Deeskalation anzubieten bereit ist.
Quelle: ntv.de