
Anfang März war Ivan Martschuk in einem Interview zu sehen. Ende Juni wurde der Kämpfer des belarussischen Regiments in Lyssytschansk getötet.
Gleich nach Invasionsbeginn in der Ukraine gründen Belarussen eine Einheit, die auf Kiews Seite gegen die russischen Angreifer kämpft. Inzwischen hat das Regiment Hunderte Mitglieder. Mit zweien sprach ein Kamerateam im März. Einer von ihnen ist nun tot, der andere in Gefangenschaft.
Im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine steht die Regierung in Minsk ganz klar an der Seite des Kremls. Belarus beteiligt sich zwar nicht aktiv an den Kämpfen, Machthaber Alexander Lukaschenko stellt aber das Staatsgebiet für die russischen Angriffe aufs Nachbarland zur Verfügung. Doch bei weitem nicht alle Belarussen schauen tatenlos zu, wenn von ihrem Land aus Raketen auf die Ukraine abgefeuert werden. Während innerhalb des Landes eine Partisanen-Bewegung mit zahlreichen Sabotageakten das Fortkommen der russischen Militärtransporte ins Kriegsgebiet stört, kämpfen Hunderte Belarussen auch unmittelbar an der Front in der Ukraine.
Bereits in den ersten Tagen des Krieges bildeten Dutzende Freiwillige eine belarussische Einheit, die mittlerweile zu einem Regiment angewachsen ist. Der Verband wurde inzwischen in die ukrainischen Streitkräfte eingegliedert und trägt den Namen des Revolutionärs Kastus Kalinouski, der Mitte des 19. Jahrhunderts für die Unabhängigkeit vom russischen Zarenreich kämpfte. "Vom Galgen aus schreibe ich euch, dem Volk, dass ihr nur glücklich werdet, wenn über euch nicht mehr Moskau sein wird", wandte sich Kalinouski 1864 in einem Brief an die Belarussen - kurz bevor er von einem Henker des Zaren in Vilnius hingerichtet wurde.
Auch mehr als 150 Jahre nach dem Tod des Freiheitskämpfers ist sein Vermächtnis aktueller denn je. Und die Soldaten des Kastus-Kalinouski-Regiments setzen den Kampf für die Unabhängigkeit ihrer Heimat fort. Denn die Belarussen und die Ukrainer kämpfen gegen einen gemeinsamen Feind. "Wenn die Ukraine gewinnt, dann wäre der Kreml geschwächt und damit wäre auch Lukaschenko geschwächt", erklärte die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja im April in einem ntv-Interview.
"Sowohl vom KGB als auch vom russischen Feind bedroht"
Anfang März hatte ein Kamerateam die Kämpfer des künftigen Regiments beim Training in Kiew besucht und mit zwei der Männer gesprochen. Wie vor wenigen Tagen bekannt wurde, ist einer von ihnen getötet worden. Der andere befindet sich in russischer Kriegsgefangenschaft.
Jan Derbeiko, gelehrter Luftfahrtingenieur, verließ Belarus 2020 nach Protesten gegen den angeblichen Wahlsieg Lukaschenkos und zog in die ukrainische Hauptstadt. Als der Krieg ausbrach, entschied sich der junge Mann zu bleiben. "Ich habe bereits mein Heimatland verloren und nun wird mein zweites Zuhause zerstört", erklärte Derbeiko seine Beweggründe. Ende Juni wurde der 26-Jährige bei den Kämpfen um Lyssytschansk im Osten der Ukraine gefangen genommen. Vor wenigen Tagen veröffentlichten prorussische Separatisten ein "Geständnis-Video" von Derbeiko. Erst dann wurde auch bekannt, dass der Kommandeur eines der zwei Bataillone des Regiments, Ivan Martschuk, bei dem Einsatz in Lyssytschansk ums Leben kam.
Martschuk war einer der Regimentsgründer und eines seiner bekanntesten Gesichter. Bereits 2015 hatte er gegen die Separatisten im Donbass gekämpft. Als im Februar der große Invasionskrieg begann, zögerte er nicht und griff zu den Waffen. "Wie könnte ich zu Hause bleiben oder weglaufen, um mich selbst zu schützen, wenn solche unrechten Dinge und Terrorismus passieren?", sagte Martschuk Anfang März in einem Beitrag, der bei ntv.de zu sehen war. Er wurde 28 Jahre alt. Einen Tag vor seinem Tod sprach er in einem Interview mit "Radio Liberty" von seiner Unfähigkeit, zu schweigen, wenn er Ungerechtigkeit sieht. "Jetzt kommt alles zu einer logischen Auflösung, also bin ich in der Ukraine, wo ich alles aufs Spiel setze und sowohl vom (belarussischen Geheimdienst) KGB als auch von den russischen Feinden bedroht werde", sagte Martschuk.
Für Lukaschenko sind Kalinouski-Kämpfer "Lumpen"
In ihrem Heimatland drohen den Kämpfern des Kastus-Kalinouski-Regiments harte Strafen. Bereits im März teilte das Innenministerium in Minsk mit, Strafverfahren gegen 50 Personen eingeleitet zu haben, die als Mitglieder des belarussischen Bataillons in der Ukraine kämpfen. Das Ministerium bezeichnete sie als "Teilnehmer der terroristischen Formationen". Im Mai ließ Lukaschenko das Strafrecht verschärfen und die Todesstrafe ausweiten. Das Regime drohte damit auch den Kalinouski-Kämpfern. "Während einige unserer Lumpen heute in der Ukraine kämpfen und im Internet damit drohen, auch in unser Land zu kommen, müssen wir zusätzliche rechtliche Maßnahmen ergreifen, um den Staat, den Frieden in unserem Land und das Leben unserer Bürger zu schützen", führte etwa die stellvertretende Vorsitzende des "Ständigen Ausschusses für Menschenrechte", Lilija Ananitsch, als Argument für die Ausweitung der Todesstrafe an.
Wie viele Belarussen auf der ukrainischen Seite kämpfen, ist nicht bekannt. Swetlana Tichanowskaja sprach von rund 1500 Soldaten. Mindestens sieben Männer kamen bei den Kämpfen bereits ums Leben. Mehrere werden vermisst oder befinden sich in russischer Gefangenschaft. Gleichzeitig gibt es auch Belarussen, die auf der russischen Seite kämpfen, aber nicht verfolgt werden. Der oppositionelle Sender "Current Time" berichtete zuletzt von mindestens fünf namentlich bekannten Kämpfern.
In seiner Mitteilung zu Martschuks Tod und Derbeikos Gefangenschaft wies das Kastus-Kalinouski-Regiment darauf hin, dass seine Kämpfer nur Freiwillige sind. Die russischen Behörden betrachten sie jedoch als illegale Söldner. Söldnertum wird in Russland mit einer Haftstrafe von bis zu acht Jahren geahndet. Zwei Briten und ein Marokkaner, die auf der ukrainischen Seite kämpften, wurden in der selbsternannten "Volksrepublik" Donezk wegen dieses Vergehens sogar zum Tode verurteilt. Die selbsternannte Republik hat ihr eigenes Strafgesetzbuch.
(Dieser Artikel wurde am Sonntag, 10. Juli 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de