Politik

"Sicher ist nur das Risiko" Umkehr in Atompolitik gefordert

Die Menschenkette von Stuttgart nach Neckarwestheim nimmt den Atomausstieg in die Hand.

Die Menschenkette von Stuttgart nach Neckarwestheim nimmt den Atomausstieg in die Hand.

(Foto: dpa)

Der Protest gegen die Atompolitik der Bundesregierung kann aktueller nicht sein: Auch angesichts der drohenden Atomkatastrophe in Japan fordern 60.000 Atomkraftgegner in Baden-Württemberg den sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie. Politiker von SPD, Grünen und auch aus der Union kritisieren die Laufzeitverlängerung für die deutschen Atommeiler.

Selten haben Proteste gegen die Atompolitik der Bundesregierung zu einem passenderen Augenblick stattgefunden. Einen Tag nach dem Erdbeben in Japan, das die Gefahr der Kernschmelze eines Atomreaktors hervorgerufen hat, haben etwa 60.000 Atomkraftgegner in Baden-Württemberg mit einer Menschenkette für den sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie demonstriert. Auf einer Strecke von 45 Kilometern zwischen Stuttgart und dem Atomkraftwerk Neckarwestheim zählten die Veranstalter damit rund 20.000 Menschen mehr, als sie zu der Protestaktion erwartet hatten. Als Grund für das gestiegene Interesse nannten die Veranstalter den durch das Erdbeben verursachten schweren Atomunfall in Japan.

Unter dem Motto "Atomausstieg in die Hand nehmen" bildeten die Teilnehmer auf der gesamten Strecke eine geschlossene Menschenkette. Unter den Demonstranten waren auch die Grünen-Bundesvorsitzenden Claudia Roth und Cem Özdemir sowie die Spitzenkandidaten zur baden-württembergischen Landtagswahl von SPD und Grüne, Nils Schmid und Winfried Kretschmann.

Die Protestaktion stand unter dem Eindruck des Atomunfalls in Japan und der Landtagswahl am 27. März. Sie war bereits vor Monaten terminiert worden. Im rund 45 Kilometer entfernten Neckarwestheim nahmen die Atomkraftgegner den von ihn geforderten Atomausstieg symbolisch selbst in die Hand. Sie zogen einen überdimensionalen Stecker und stöpselten ihn in ein Windrad.

Der Reaktor ist einer derjenigen, deren bevorstehende Abschaltung durch die von der Bundesregierung beschlossene Laufzeitverlängerung um acht Jahre verschoben werden soll. Demonstrations-Organisator Jochen Stay von Anti-Atom-Organisation "ausgestrahlt" erklärte, die Ereignisse in Japan seien der Beweis, dass selbst in einem Hochtechnologie-Land mit besonderer Sicherheitskultur nicht alle Risiken der Atomenergie beherrscht werden könnten. "Sicher ist bei der Atomkraft nur das Risiko", sagte er.

Röttgen wiegelt ab

Auch für das AKW Neckerwestheim soll die Abschaltung verschoben werden, obwohl es unsicher und veraltet ist.

Auch für das AKW Neckerwestheim soll die Abschaltung verschoben werden, obwohl es unsicher und veraltet ist.

(Foto: picture alliance / dpa)

Das Bundesumweltministerium hatte am Freitag erklärt, die deutschen Kraftwerke seien gegen die hierzulande zu erwartenden Beben gesichert. Bei Überschreiten von Grenzwerten der Erderschütterungen würden sie automatisch abgeschaltet.

"Praktisch ausgeschlossen" ist  Minister Norbert Röttgen (CDU) zufolge auch eine Gefährdung Deutschlands durch das beschädigte AKW Fukushima wegen der großen Entfernung und der Wind- und Wetterlage. In Japan wehe der Wind vom Festland auf den Pazifik und nicht in westliche Richtung, sagte Röttgen vor Beginn eines Landesparteitags der nordrhein-westfälischen CDU in Siegen.

Die Indizien sprächen dafür, dass in Fukushima "der Prozess der Kernschmelze im Gange ist", sdo Röttgen. Nun stelle sich auch für Deutschland die Frage nach der Beherrschbarkeit neu, räumte der Umweltminister ein.

Russisches Roulette auch in Deutschland

Die  Debatte über die Zukunft der Atomenergie in Deutschland hat durch die aktuellen Ereignisse neuen Anschub erhalten. Auch unionsinterne Kritiker der atomfreundlichen Parteilinie haben die deutsche Regierungspolitik scharf kritisiert. "Es wird der Atomindustrie gestattet, mit unseren Lebens- und Zukunftschancen Russisches Roulett zu spielen", schrieb der Bundesverband Christliche Demokraten gegen Atomkraft (CDAK) in einer Mitteilung. "Auch in Deutschland werden die Risiken und Folgekosten der Atomkraftwerke von EnBW, E.ON, RWE und Vattenfall auf unbeteiligte Dritte abgewälzt." Zudem sei der Schutz der Bürger "augenscheinlich nicht wirklich gewollt, sonst würden die Pläne zur Evakuierung in den offiziellen Amtsblättern der Kommunen und Landkreise veröffentlicht".

Grünen-Fraktionschefin Renate Künast sagte, die Ereignisse in Japan zeigten: "Wir beherrschen nicht die Natur, sondern die Natur herrscht über uns." Daher sei die Entscheidung der schwarz-gelben Koalition falsch gewesen, die Laufzeiten der deutschen Atommeiler zu verlängern, sagte sie Deutschlandradio Kultur.

Der stellvertretende SPD-Fraktionschef Ulrich Kelber verwies in der "Neuen Osnabrücker Zeitung" darauf, dass auch einige deutsche AKW in Erdbeben-gefährdeten Gebieten stehen. Weit größer als das Erdbeben-Risiko sei in Deutschland aber die Gefahr eines Terroranschlags. "Die Kuppeln der sieben ältesten deutschen Atomkraftwerke sind nicht ausreichend gegen gezielte Angriffe mit einem Passagierflugzeug geschützt", betonte Kelber.

Diese Risiko-Reaktoren wie Biblis, Isar oder Neckarwestheim gehörten unverzüglich vom Netz, forderte Kelber. "Es wäre unverantwortlich, noch über Jahre massive Gefahren in dicht besiedelten Regionen Deutschlands in Kauf zu nehmen", warnte der SPD-Umweltexperte. Zumal es für den Weiterbetrieb der Meiler keinen triftigen Grund gebe. "Wenn sie die Kraftwerke morgen abschalten, steigt weder der Strompreis noch wird die Stromversorgung gefährdet", zeigte sich Kelber überzeugt. Der SPD-Innenpolitiker Dieter Wiefelspütz forderte daher in derselben Zeitung: "Wir müssen besser heute als morgen aus der Atomkraft aussteigen."

Erdbebensicherheit auch in Deutschland ein Thema

Nach Angaben des ehemaligen Chefs der Atomaufsicht in Deutschland, Wolfgang Renneberg,  rückt auch für Deutschland die Frage der Erdbebensicherheit von Atomkraftwerken wieder in den Blickpunkt. Japan habe 2005 und 2007 die Anforderungen an die AKW erhöht, aber offensichtlich nicht ausreichend. Das Ausmaß der Strahlung hänge zudem stark am Alter der Brennelement, die in dem Reaktor arbeiteten. Je länger sie dort bereits eingesetzt seien, desto mehr Radioaktivität werde frei. Der Physiker und Jurist Renneberg hatte die Abteilung Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium unter Jürgen Trittin (Grüne) und Sigmar Gabriel (SPD) bis 2009 geleitet.

In Deutschland gelte der Rhein-Graben als Risikogebiet, sagte Renneberg. Der Reaktor Mülheim-Kärlich ging auch wegen dieser Gefahr nie ans Netz. In der Gegend stehen auch die AKW Neckarwestheim, Philippsburg, Biblis sowie der französische Reaktor Fessenheim. In Deutschland müsse ein Atomkraftwerk das im Umkreis von 200 Kilometern größte je gemessene Erdbeben aushalten. Verschiedene AKW müssten daher nachgerüstet werden. "Über diese Fragen gibt es einen langen Streik unter Experten", sagte Renneberg. Klar sei aber, dass besonders Fessenheim die Anforderungen nicht erfülle.

Quelle: ntv.de, dpa/rts/AFP

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