EU-Gipfel in Brüssel Von Entspannung kann keine Rede sein
22.06.2017, 11:58 Uhr
Schwierige Zeiten für die EU: Ratspräsident Tusk beim Gipfel in Straßburg im Oktober 2016.
(Foto: REUTERS)
Der Brexit hat nicht dazu geführt, dass die EU-Staaten weiter auseinanderdriften. Den Staatschefs steht trotzdem ein schwieriger Gipfel bevor. Das liegt vor allem an zwei Themen.
Wenn die Staats- und Regierungschef der Europäischen Union heute Nachmittag zum Gipfel zusammenkommen, wird es vor allem um eines gehen: Sicherheit. Kein Wunder angesichts der jüngsten Terroranschläge von London, Paris und Brüssel und den Querelen mit US-Präsident Donald Trump und dessen undurchschaubarer Haltung zur Nato.
EU-Ratspräsident Donald Tusk spricht in seiner Einladung an die politische Führungsriege vom Fortschritt, den die Gemeinschaft beim Kampf gegen sogenannte Foreign Fighters und gefährliche Rückkehrer aus dem Krieg in Syrien und Irak gemacht habe. Dann skizziert der Pole, was er sich von dem Gipfel auf diesem Feld als nächstes erhofft: "Jetzt ist es an der Zeit, die Zusammenarbeit mit der Internet-Branche zu intensivieren", schreibt er. "Terroristische Propaganda ist in den ersten Stunden, nachdem sie im Internet gepostet wurde, am wirkungsvollsten. Daher sollten wir die Branche anhalten, Instrumente zu entwickeln, die Inhalte, die terroristisches Gedankengut verbreiten oder zu Gewalt aufrufen, automatisch entdecken und löschen." Im Entwurf der Gipfel-Erklärung wird gefordert, entsprechende Techniken zu entwickeln. Eine Einigung zumindest in groben Zügen ist denkbar.
Fortschritte erhofft sich Tusk auch bei einer gestärkten militärischen Zusammenarbeit. Die EU-Staaten geben unnötigerweise Milliarden aus, weil sich praktisch jedes Land in Eigenregie um Rüstungsgeschäfte bemüht. Das führt auch dazu, dass die verschiedenen nationalen Streitkräfte nur bedingt zusammenarbeiten können und unnötige Dopplungen bestehen. Die EU verfügt über 19 verschiedene Kampffahrzeuge und 29 unterschiedliche Fregattentypen.
Ende vergangenen Jahres schlug die EU-Kommission deshalb vor, einen gemeinsamen Rüstungsfonds aufzusetzen und gemeinsam einzukaufen. Die Staats- und Regierungschefs sollen sich nun zu diesem Ziel bekennen, um das Projekt möglichst noch in diesem Jahr zu starten.
Zwei Geschwindigkeiten in der Verteidigungspolitik?
Diskutiert werden dürfte auch die sogenannte ständige strukturierte Zusammenarbeit. Ein Mechanismus, der das Potenzial hat, die Nationalstaaterei in militärischen Fragen auszuhebeln.
Schritte der EU, die auch nur Ansatzweise in Richtung einer Europaarmee gehen, bedürfen normalerweise der Einstimmigkeit. So wie alle weitreichenden Entscheidungen der Gemeinschaft. Artikel 42 des Lissabon-Vertrages birgt aber die Möglichkeit, dass einzelne Mitgliedstaaten weitgehend unabhängig vom Rest der Union ihre Kooperation ausbauen. Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten in der Verteidigungspolitik.
Tusk ist offensichtlich bemüht, auf diesem Wege jene Staaten anzutreiben, die sich bisher vehement gegen jedwede Vertiefung gesperrt haben. "Diese Zusammenarbeit kann das beste Beispiel dafür sein, dass wir nicht für unterschiedliche Geschwindigkeiten eintreten, sondern eine Arbeitsmethode festlegen, die es der gesamten EU ermöglicht, die richtige Geschwindigkeit zu finden."
Ob es bei diesen Projekten aber wirklich merklich vorangeht, ist ungewiss. Der Fonds und die strukturierte Zusammenarbeit sind unter den Mitgliedstaaten umstritten. Dabei spielen die Angst, Souveränität zu verlieren, eine Rolle, aber auch die Sorge abgehängt zu werden.
Theresa May bekommt nur eine halbe Stunde
Themen wie der Brexit werden beim Gipfel unterdessen kaum von Bedeutung sein. Aus deutschen Regierungskreisen heißt es, dass die britische Premierministerin Theresa May nur eine halbe Stunde nach dem Arbeitsdinner bekommt, um über den Austritt aus der EU zu referieren. Verhandlungen wollen die übrigen 27 Staatschefs nicht mit ihr führen. Damit ist schließlich Chef-Unterhändler Michel Barnier beauftragt.
Es wird auf dem Gipfel um ein Bekenntnis der Mitgliedsstaaten zum UN-Klimavertrag gehen, um eine mögliche Verlängerung der Sanktionen gegen Russland wegen der Annexion der Krim und um Mittel, unfaire Machenschaften einzelner Staaten auf dem Weltmarkt zu kontern. Den zweiten Schwerpunkt des Gipfels dürfte aber ein anderes Thema bilden: die Migration.
Durch den EU-Türkei-Deal kommen zwar kaum noch Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Griechenland. Die Situation auf der zentralen Mittelmeerroute von Libyen nach Italien spitzt sich dagegen zu.
Libyen, ein umstrittener Partner
Die Zahl illegaler Einwanderer hat sich im Vergleich zum Vorjahr um 26 Prozent erhöht. Einige Beobachter rechnen damit, dass in diesem Jahr 300.000 Menschen diesen Weg nach Europa wählen. Tusk spricht in seiner Einladung an die Staatenlenker von einer "neuen Dimension" im Schmugglergeschäft.
Der Ratspräsident pocht darauf, mehr Geld in die Unterstützung der libyschen Küstenwache und deren Ausbildung zu investieren. Dieser Schritt ist aber äußert umstritten. Libyen verfügt über keine zentrale Regierung, die Sicherheitsbehörden sind nicht in der Lage, das gesamte Staatsgebiet zu überwachen und Menschenrechtsorganisationen kritisieren die Situation von Flüchtlingen in dem Land heftig. Tusk ist offenbar bemüht, derartige Bedenken auszuräumen. Über die libyische Küstenwache sagt er: "Sie ist unser Verbündeter bei der Bekämpfung der Schleuser."
Auch abgesehen von Libyen ist das Thema Zuwanderung Auftrag und Bürde für diesen Gipfel zugleich. Die Neuregelung des europäischen Asylsystems kommt nur schleppend voran. Mehrere Mitgliedstaaten weigern sich weiterhin vehement, Flüchtlinge gerecht in der EU zu verteilen. Die Kommission sah sich deshalb erst vor einer Woche gezwungen, Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn, Polen und Tschechien einzuleiten.
Tusk gibt sich optimistisch, teils zu Recht. Die Sorge, dass die EU durch den Brexit zerbricht, ist nach den Wahlen in den Niederlanden und zuletzt in Frankreich schließlich wieder kleiner geworden. "Wir erleben gerade eine Wende, und die EU wird nun eher als Lösung denn als Problem wahrgenommen", so der Ratspräsident. Einfach wird dieser Gipfel angesichts der Themen Sicherheit und Migration trotzdem sicher nicht.
Quelle: ntv.de, mit dpa