Arbeitslosigkeit Vorwurf der Schönfärberei
27.05.2008, 07:53 UhrDas Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat der großen Koalition vorgeworfen, die Arbeitslosigkeit in Deutschland künstlich niedrig zu rechnen. Es werde bei den Arbeitslosenzahlen "in der Tat an der Statistik-Schraube gedreht", sagte der Chef des an die Bundesagentur für Arbeit angegliederten IAB, Joachim Möller, der "Süddeutschen Zeitung". Als Beispiel nannte der Experte die sogenannte "stille Reserve" von 625.000 Menschen, die sich wegen schlechter Vermittlungschancen gar nicht erst bei den Arbeitsagenturen meldeten. Hinzu kämen etwa eine Million Menschen, die nicht als arbeitslos gezählt würden, weil sie beispielsweise als Ein-Euro-Jobber arbeiteten, in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen seien oder staatlich gefördert frühverrentet würden.
Zähle man alles zusammen, "kommt man in Deutschland auf gut fünf Millionen Menschen, die gerne arbeiten würden", erklärte Möller. Möller kritisierte, dass wechselnde Regierungen schon seit Jahrzehnten immer wieder an der Statistik gedreht hätten. Die große Koalition etwa habe es versäumt, die Frühverrentungs-Regelungen konsequent abzuschaffen.
Die neuen Arbeitsmarktdaten werden am Donnerstag veröffentlicht.
Unter Arbeitsmarkt-Experten ist auch längst nicht ausgemacht, dass die Bankenkrise als Folge der US-Hypothekenkrise weiter ohne Einfluss auf den Arbeitsmarkt bleibt. Volkswirte erinnern daran, dass solche globalen Wirtschaftskrisen erst mit einigen Monaten Verspätung auf den Arbeitsmarkt durchschlagen. Das könnte dann der Fall sein, wenn etwa Banken bei der Kreditvergabe künftig strengere Maßstäbe anlegen und vor allem mittelständische Unternehmen bei der Kapitalbeschaffung unter Druck bringen. Müssten dann Expansionspläne der Firmen gestoppt werden, würden geplante Neueinstellungen verschoben, Belegschaften womöglich sogar verkleinert.
Angesichts solcher mittelfristiger Perspektiven überlässt BA-Chef Weise die Träume von einer angeblich nahenden Vollbeschäftigung gerne den Politikern, wie SPD-Chef Kurt Beck. Für Weise ist eine Arbeitslosigkeit von drei Prozent zwar ein lohnendes Ziel, das auch Politiker nie aus dem Auge verlieren sollten; tatsächlich sei es aber wohl nur für die reicheren Süd-Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg ein realistisches Ziel. Arbeitsmarktforscher sehen dafür selbst bei bester Konjunktur vor dem Jahr 2020 kaum Chancen. Erst dann sorge die zunehmende Überalterung der Gesellschaft dafür, dass immer weniger Menschen auf den Arbeitsmarkt drängten - und entsprechend weniger von ihnen arbeitslos werden.
Zudem hat der aktuelle Job-Boom klar gemacht: Selbst bei guter wirtschaftlicher Entwicklung geht die Schere zwischen Kurz- und Langzeitarbeitslosen immer weiter auseinander. Schon melden sich erste Politikerstimmen, die der Bundesagentur vorwerfen, sie habe die Gunst der Hochkonjunktur unzureichend genutzt, um die Langzeitarbeitslosigkeit abzubauen. Tatsächlich haben arbeitslose Arbeitslosengeld-II-Empfänger unverhältnismäßig gering von dem dreijährigen Arbeitsmarktaufschwung profitiert. Während die Zahl der Arbeitslosengeld-I-Empfänger seit April 2007 um 23 Prozent sank, ging die Zahl der Arbeitslosengeld-II-Empfänger lediglich um zehn Prozent zurück.
Von Klaus Tscharnke, dpa
Quelle: ntv.de