Alles sollte doch anders werden Warum die Europawahl so langweilig ist
16.05.2014, 06:32 Uhr
Diese Kandidaten wollen EU-Kommissionspräsident werden: Alexis Tsipras (Linke), Ska Keller (Grüne), Martin Schulz (Sozialdemokraten), Jean-Claude Juncker (Konservative) und Guy Verhofstadt (Liberale)
(Foto: AP)
Es gibt einige Gründe dafür, dass sich die Wähler weniger für das Europaparlament als für den Bundestag interessieren. Einer ist: Die deutschen Parteien wollen es so.
Langweilig kann man diese Debatte wirklich nicht nennen. Fünf Spitzenpolitiker stehen gemeinsam auf einer Bühne und rasen mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit durch die Themen des Wahlkampfs. Wie beendet man die Jugendarbeitslosigkeit? Was macht man mit Russland? Wie geht man mit Einwanderern um? Neun Fragen sind es, die die Kandidaten gestellt bekommen, außerdem haben sie Zeit für je ein Statement am Anfang und am Ende. Wobei "Zeit" übertrieben ist. Länger als 60 Sekunden darf niemand antworten, die Statements sind sogar nur halb so kurz. Wer sich nicht beeilt, riskiert, von der Moderatorin unterbrochen zu werden. Die Grüne wird immer schneller, der Liberale immer lauter und der Sozialdemokrat immer undeutlicher. Jedes Luftholen kostet wertvolle Sekundenbruchteile. Zuschauer, die sich mit den komplexen Fragen nicht auskennen, kapieren gar nichts mehr. Der Zeitdruck zermatscht alles zu einem Politbrei.
Dabei versuchen die Spitzenkandidaten dieser Europawahl alles, um die Bürger für ihre Themen zu begeistern. Sie reisen durch alle 28 Mitgliedstaaten, erklären wieder und wieder ihre Position, geben so viele Interviews, wie es geht. "Dieses Mal ist es anders", behauptet das Europäische Parlament seit Monaten. Aus der Abstimmung sollte eine echte Wahl werden. Immerhin geht es zum ersten Mal darum, über den Kommissionspräsidenten zu entscheiden. Bislang wurde der von den Regierungschefs der Mitgliedstaaten gekürt, nun wird er vom Parlament gewählt. Die Parteienfamilien haben sich zum ersten Mal Spitzenkandidaten gegeben, die für Zuspitzung und Spannung sorgen sollen. Und trotzdem schleppt sich der Wahlkampf in Deutschland müde voran.
Das liegt zum einen an den alten Problemen, an den sich in den vergangenen fünf Jahren kaum etwas geändert hat. Da sind die Kluften, die durch die 24 Amtssprachen der EU entstehen. In Brüssel sorgt ein Heer an Übersetzern und Dolmetschern dafür, diese Kluften zu überbrücken. Doch für die Wähler bleibt es mühsam, simultan übersetzte Debatten zu verfolgen. Zwischentöne und Emotionen gehen dabei verloren. So auch bei der Diskussion am Donnerstagabend. Wer konnte, schaute sich lieber die englische Fassung an, bei der nur zwei der fünf Teilnehmer übersetzt werden mussten.
Viele Fragen - und viel Einigkeit
Natürlich sind auch die Themen etwas schwieriger. Steuererhöhungen oder Mindestlöhne, über die allein die Nationalstaaten entscheiden, gehen die Bürger direkt etwas an. Wenn die EU etwas gegen Jugendarbeitslosigkeit tun möchte, kann sie das nur auf sehr indirekten Wegen. Auch über Krieg und Frieden entscheiden immer noch die Staaten, nicht die Union.
Dazu kommt, dass es schwer zu durchschauen ist, wer in Brüssel was zu sagen hat. Welche Aufgaben Bundestag und Bundesregierung haben, wissen viele noch. Das Konstrukt aus Europäischem Rat, Kommission und Parlament ist nicht nur komplizierter. Es ist auch unter Experten umstritten, ob eher der Europäische Rat oder eher die Kommission so etwas wie die "Regierung" der EU ist. Und dem Parlament bescheinigte das deutsche Bundesverfassungsgericht kürzlich erst, dass es gar kein richtiges Parlament sei.
Und das hat mit einer weiteren Besonderheit der EU-Demokratie zu tun: Im Parlament gibt es keine feste Koalition, sondern wechselnde Mehrheiten - was man durchaus gut finden kann. Denn die Abgeordneten können selbstständig entscheiden und sind nicht an ihre Fraktion gebunden. Die Entscheidungen, die dabei herauskommen, werden oft von sehr großen Mehrheiten getragen. Die klare Positionierung von Parteien und die Zuspitzung der Debatten geht dabei allerdings verloren.
Mit den Spitzenkandidaten wollten die Parteienfamilien diese Zuspitzung eigentlich nachholen. Doch nun stehen sie auf einer Bühne und sind sich in vielen Fragen viel zu einig. Wenn diese fünf gemeinsam über EU-Gesetze entscheiden könnten, würden sie sofort eine gemeinsame Einwanderungsbehörde schaffen, den Mitgliedsstaaten Mindestlöhne vorschreiben und die Verordnung für wassersparende Toiletten einkassieren. Und wahrscheinlich würde es ihnen nicht einmal schwerfallen, einen Kommissionspräsidenten zu bestimmen.
Merkel mischt mit
Doch spätestens da kommen die Regierungschefs der Mitgliedstaaten ins Spiel: Sie haben bei fast allen wichtigen Fragen in der EU das letzte Wort. Oft streiten sich gar nicht die Parteien im Europaparlament untereinander, sondern die Mehrheit des Parlaments streitet mit den Regierungschefs. Die mächtigste Regierungschefin ist derzeit Angela Merkel und sie sieht es keineswegs so, dass einer der Kandidaten auch Kommissionspräsident wird. Denn wählen darf zwar das Parlament - aber nur auf Vorschlag der Regierungschefs. Merkel lässt verlauten, es gebe nach der Wahl "keinen Automatismus", wer den Job bekommt. Die Kandidaten bringt das allesamt zur Weißglut.
Merkels Machtanspruch führt mit dazu, dass die Spitzenkandidaten nicht richtig ernst genommen werden. Die Kanzlerin lässt sich ohnehin lieber selbst plakatieren - sie weiß, wie beliebt sie ist. Aber auch die Linken und die Grünen tun nichts dafür, dass die EU-Kandidaten hierzulande bekannter werden. Bei der SPD ist das anders, weil der EU-Spitzenkandidat Martin Schulz zufällig aus Deutschland kommt und zwar unbekannter, aber auch populärer ist als der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel. So freute sich die SPD, dass sie Schulz gleich auch zum nationalen Spitzenkandidaten küren konnte und einen Wahlkampf aus einem Guss präsentieren kann. Die Grünen dagegen haben zwar mit Ska Keller auch eine Deutsche, die europaweit antritt, wählten sie aber nur auf Platz drei ihrer Liste. Die Linke wählte Gabi Zimmer, die schon bei ihrer Bewerbungsrede müde und lustlos wirkte. Einen echten europäischen Wahlkampf will offensichtlich kaum jemand in Deutschland.
Damit verläuft der Wahlkampf im Prinzip so wie bei der Bundestagswahl - nur mit komplexeren Themen und unbekannteren Kandidaten. Vor einigen Wochen hatte man in Brüssel noch gehofft, dass die Wahlbeteiligung steigen wird. Das sagt nun niemand mehr. Die EU-Politiker trösten sich damit, dass es ja erst ein Anfang sei, und sich bei der nächsten Wahl alles weiterentwickeln könnte. Ob das so kommt, hängt stark von Angela Merkel ab. Wenn sie einen Kommissionspräsidenten installiert, der gar nicht kandidiert hat, bleibt die Sache mit den Spitzenkandidaten wohl ein einmaliges Experiment.
Quelle: ntv.de