Experte warnt vor "Märchen" Warum die Ukraine trotz Awdijiwka längst nicht verloren ist
22.02.2024, 17:37 Uhr Artikel anhören
Die ukrainischen Verteidiger eliminieren fast täglich im großen Stil militärisches Gerät der Kreml-Truppen.
(Foto: picture alliance / Anadolu)
Das Blatt im Ukraine-Krieg scheint sich deutlich zugunsten der Russen gewendet zu haben. Doch der Fall der zerstörten Stadt Awdijiwka hat letztlich wenig Bedeutung, der Kampf geht weiter. Militärökonom Markus Keupp hält den Rückzug von Kiews Truppen für richtig.
Die Ruinen von Awdijiwka sind in die Hände der russischen Streitkräfte gefallen. Ein Segen für die russische Propagandamaschine. Beflügelt vom "Erfolgserlebnis" bringt Putins politischer Einpeitscher Medwedew bei einer Rede schon eine mögliche russische Eroberung Kiews ins Spiel. Und auch im Westen ist man alarmiert. Der deutsche Generalmajor Christian Freuding sieht Russland in der Initiative, an der Saporischschja-Front im Süden intensivieren sich die Angriffe auf Robotyne.
Die Ukraine warnt zudem seit Monaten vor eklatantem Munitionsmangel, während Russland tönt, die Produktion hochzufahren und weiter massiv angreifen zu können. Angesichts dieser ganzen Nachrichten entsteht der Eindruck, dass es für Kiews Truppen zappenduster aussieht. Aber ist dem wirklich so?
Der Militärökonom Marcus Keupp hält die Lage für längst nicht so schlecht, wie sie oft dargestellt wird. Dass der ukrainische Armeechef Syrsky in die "strategische Verteidigung" geht, hält er für richtig: "Abnutzungsraten wie im Häuserkampf - obwohl da der Verteidiger im Vorteil ist - kann die Ukraine sich nicht leisten", schreibt Keupp in einem Beitrag auf X.
Was Kiews Truppen aber gut könnten: "Die russischen Verbände auf offenes Gelände vorstoßen lassen und die Fahrzeuge dann mit Drohnen und präziser Artillerie herausnehmen, ohne dass Russland die Drohnenoperateure sehen oder bekämpfen kann. So funktioniert das auch in Krynky, wo die Ukraine seit Monaten kontinuierlich Fahrzeuge abschießt, die die Russen wieder - und zwar vereinzelt - vorschicken."
Bei der Schlacht um Awdijiwka sollen die russischen Streitkräfte über Monate hinweg Tausende Soldaten sowie Hunderte Panzer und gepanzerte Fahrzeuge verloren haben. Die Töne aus Moskau zum Potenzial der russischen Rüstungsindustrie und die Tatsache, dass die massiven Angriffe pausenlos fortgesetzt werden, lassen den Schluss zu, dass es immer so weitergeht - egal, wie viel die ukrainischen Streitkräfte eliminieren. Möglicherweise ist das ein Trugschluss.
Auch Russland kann nicht ewig nachproduzieren
Keupp meint: "Das russische Ressourcenkalkül ist unverändert: Egal, wie viel ihr abschießt, wir können ewig nachschieben beziehungsweise nachproduzieren. Dieses Märchen wird auch im Westen gerne geglaubt, von einigen Analysten wie auch von Journalisten." Laut dem Militärökonomen sind die russischen Reserven groß, "aber sie sind nicht unbegrenzt. Die Verlustquoten an der Front übersteigen für jedes System - Panzer, Schützenpanzer, Artillerie - die Produktionsraten".
Ähnliches sagten westliche Vertreter kürzlich auch der Nachrichtenagentur Reuters: "Die russischen Munitionsproduktionskapazitäten im eigenen Land reichen derzeit nicht aus, um den Bedarf des Ukraine-Kriegs zu decken."
Der russische Nachschub kommt laut Keupp aus den mit sowjetischer Technologie gefüllten Lagern. "Die russische Armee und Rüstungsindustrie steht auf den Füßen der Sowjetunion. Sie verbrennt deren - zugegebenermaßen große - Ressourcen." Im Westen aber sehe man das Verfeuern dieser Reserven und denke, diese kämen aus der laufenden Produktion. "Dem ist aber nicht so. Beispiel Artilleriemunition: Von circa 17 Millionen Granaten sind noch circa fünf Millionen übrig."
Bei Panzern sei die einsatzfähige Reserve von rund 3000 Stück fast vollständig abgeschossen. "Was jetzt nachrückt, ist keine Neuproduktion, sondern wieder flottgemachte T-80, T-72, T-62 und, ja, T-55 aus den Lagern." Die T-55 gelten als Oldtimer und museumsreif.
Über allem steht Artilleriemunition
Damit die Ukrainer ihre oft erfolgreichen Angriffe auf die russischen Besatzer weiter durchführen können, brauchen sie aber nach wie vor mehr Munition. Denn sicher ist, dass die russischen Streitkräfte weiter mit Hunderten Fahrzeugen und Tausenden Soldaten angreifen werden. "Soll die Ukraine überleben, führt kein Weg vorbei an einer massiven Ausweitung der Waffenlieferungen", schreibt Keupp auf X. "Und zwar in dieser Priorität: 1. Artilleriemunition, 2. Artilleriemunition, 3. Kampfflugzeuge, 4. Raketenartillerie zur Fernzielbekämpfung."
Bei der Artillerie ruhen viele Hoffnungen aktuell auf einer tschechischen Initiative. Prag will der Ukraine binnen weniger Wochen 800.000 Schuss Munition beschaffen. Das bestätigten tschechische Regierungskreise dem "Tagesspiegel". Präsident Petr Pavel habe die dringend benötigte Munition in Drittstaaten lokalisiert und sei in Gesprächen mit Dänemark, den Niederlanden und Kanada, um den Ankauf zu finanzieren.
Das Artillerieproblem ist seit Monaten bekannt, im Westen bemüht man sich, dem entgegenzuwirken - auch wenn das längst nicht in dem Ausmaß klappt, wie man es versprochen hatte. Möglich ist, dass das milliardenschwere Hilfspaket der USA in Washington noch durchs Repräsentantenhaus kommt und der Ukraine einen bedeutenden Boost verleiht.
Warnung vor "Angstnarrativen"
Keupp warnt mit Blick auf die vermeintliche Erfolgswelle der russischen Seite vor Auslandspropaganda: "Die westliche Presse, die den Krieg ohnehin als Soap behandelt, spinnt sich in Angstnarrative ein: Awdijiwka ist gefallen! Alles ist verloren! Und die Trolle rufen: Verhandeln! Verhandeln!"
Doch Awdijiwka sei durch massives Flächenbombardement aus der Luft an die Russen gegangen - "und wurde nicht vom Boden aus erobert". Keupp verweist in diesem Zusammenhang auf die dürftige Luftverteidigung der Ukraine an der Front, da viele Systeme zum Schutz der Zivilbevölkerung und Infrastruktur im Hinterland eingesetzt werden müssen. "Seit Kriegsbeginn operiert Russland weitgehend ungestraft im Luftraum über der Front, weil die Ukraine nicht genügend Kampfflugzeuge hat." Ein Zustand, den Kiew jedoch ändern will.
Das Erreichen der Lufthoheit in diesem Jahr hatten Vertreter neben dem technologischen Fortschritt immer wieder als Ziel genannt. Eine starke Verbesserung wird sich von dem Einsatz der modernen F-16-Kampfjets erhofft. Laut einem kürzlichen Bericht von CNN schließt die erste Gruppe ukrainischer Piloten bis zum Sommer die von den USA geleitete F-16-Ausbildung ab.
Quelle: ntv.de