Politik

Wertevermittlung auf Kubanisch "Was ist Politik, wenn nicht Kultur?"

Eine Zeitschrift für das kubanische Volk - das ist "La Calle del Medio", wenn es nach Direktor Enrique Ubieta geht. Im Interview mit n-tv.de erklärt der 52-Jährige, mit welchen Themen sein Monatsblatt Werte vermitteln will, und wie er sich ein zukünftiges sozialistisches Kuba vorstellt.

"Die kubanische Gesellschaft ist sehr diversifiziert", sagt Enrique Ubieta. Mit seiner Zeitschrift "La Calle del Medio" will er sie alle erreichen.

"Die kubanische Gesellschaft ist sehr diversifiziert", sagt Enrique Ubieta. Mit seiner Zeitschrift "La Calle del Medio" will er sie alle erreichen.

(Foto: ASSOCIATED PRESS)

n-tv.de: Señor Ubieta, was bedeutet der Name Ihrer Zeitschrift "La Calle del Medio"? In der Mitte der Straße, oder verbirgt sich dahinter gar der Begriff "Dritter Weg"?

Enrique Ubieta: Nein, mit einem "Dritten Weg" hat das nichts zu tun. Das ist ein Begriff aus dem Kastilischen, der die Hauptstraße von Dörfern meint. Im Volksmund ist damit eine Person gemeint, die furchtlos voranschreitet und offen ihre Meinung sagt.

Wie hoch ist die Auflage?

100.000 Exemplare, und es ist die einzige Zeitschrift in Kuba, die gänzlich in Farbe erscheint. Wir haben leider noch keine eigene Website. Dazu fehlt uns das Personal. Aber man kann unsere Ausgaben unter www.cubasi.cu als PDF-Dokument abrufen.

Im Untertitel Ihrer Zeitschrift heißt es "Monatsschrift für Meinung und Debatte". Welche Meinungen kommen bei Ihnen zu Wort?

Wir sind eine Publikation für ein breites Publikum, für das ganze Volk. Wir bedienen also ein großes Spektrum von Interessen. Dabei geht es uns um die Diskussion der Alltagswerte unserer Gesellschaft - nicht abstrakt, sondern konkret. So haben wir zum Beispiel einen Sportteil, eine Rubrik, die sich mit dem Essen beschäftigt, einen Fernsehteil. Auch führen wir Interviews mit Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Dabei versuchen wir, auf polemische Fragen aufmerksam zu machen.

Auf welche?

Enrique Ubieta

Enrique Ubieta

Nehmen wir die Telenovelas. Da diskutieren wir nicht, wie eine bestimmte Situation in Szene gesetzt wird, sondern die Qualität der Telenovela, was die Zuschauer empfinden, wenn sie die Serie sehen. Wir haben großen Respekt vor der Meinung des Lesers. Wir diskutieren auch Fragen, bei denen man glaubte, die absolute Wahrheit zu kennen.

Geht es nur um kulturelle Fragen oder auch um Politik?

Was ist Politik, wenn nicht Kultur? Wir sprechen nicht über Politik, sondern über Werte. Die ganzen letzten zwei oder manchmal vier Seiten der Zeitschrift sind der Meinung der Leser gewidmet. Natürlich sprechen wir nicht nur über Telenovelas, sondern auch über Musik, über "reguetón" zum Beispiel, die besonders unter der Jugend in Kuba sehr beliebt ist.

Was ist das für eine Musik?

Da gibt es Einflüsse aus der Bronx, aus Puerto Rico, vom Reggae und vom Rap, aber "reguetón" ist sehr viel merkantiler, mit manchmal sehr mageren Texten. Da gibt es viel mehr Visuelles, die Sänger behängen sich mit irgendwelchen Ketten oder präsentieren sich beim Singen mit einem Model. In der Zeitschrift diskutieren wir nicht darüber, ob diese Musik gut oder schlecht ist, sondern welche Werte der Sänger vertritt.

Fühlen sich diese Musiker als Teil der kubanischen Revolution, sind sie dagegen oder stehen sie außerhalb?

Nein, sie sind nicht dagegen, aber einige sind sehr auf sich selbst bezogen.

Nach dem jüngsten Parteitag der Kommunistischen Partei Kubas hat ein Prozess wirtschaftlicher Umgestaltung begonnen. Meinen Sie nicht, dass darauf auch ein Prozess politischer Umgestaltung beginnen müsste?

Die ökonomische Umgestaltung hat die erklärte Zielstellung, den Sozialismus zu stärken. Alle politischen Justierungen haben dieselbe Funktion. Es gibt nicht nur einen Weg zum Sozialismus. In gewisser Weise muss man diesen Weg neu erfinden. Wir sind eine kleine Insel, wir haben kein Erdöl, sind immer noch der illegalen Blockade durch die USA ausgesetzt, die in letzter Zeit sogar noch ausgeweitet wurde. Wir führen kleine Marktelemente ein. Der Staat muss sich von Sektoren befreien, die nicht grundlegend sind für die Wirtschaft, namentlich im Dienstleistungsbereich und bei der Lebensmittelproduktion.

In Europa wird das Vorgehen gegen die Dissidenten in Ihrem Land heftig kritisiert. Wie stehen Sie dazu?

Die kubanische Gesellschaft ist sehr diversifiziert. Daraus ergeben sich verschiedene Blickwinkel, die Menschen haben unterschiedliche Erwartungen vom Leben. Die Beschlüsse des jüngsten Parteitags der KP Kubas sind das Ergebnis sehr tiefgreifender Diskussionen. Es gibt authentische interne Dissidenten, wenn Sie so wollen. Ein solcher Dissident kann mein Nachbar sein, der andere Meinungen hat als ich, sie auch äußert und gleichzeitig seinen Beitrag im revolutionären Prozess leistet. Die sogenannte "disidencia cubana", die man im Ausland kennt, hat andere Wurzeln. In allen europäischen Ländern gibt es Gesetze, die die Annahme von Geld aus dem Ausland für die Unterminierung des politischen Systems verbieten. In Frankreich oder Italien stehen darauf 20 Jahre Gefängnis. Der US-Kongress beschließt alljährlich die Vergabe von beträchtlichen Summen für diese sogenannten Dissidenten, um unser System in Kuba zu stürzen.

Wo steht Kuba in zehn Jahren?

Ich kann sagen, dass ich und die große Mehrheit der Kubaner dafür arbeiten, dass es einen sehr viel besseren Sozialismus gibt, mit einer sehr viel reicheren Gesellschaft, mit besserer Kultur. Ein System, das aber die grundlegenden Errungenschaften des Sozialismus bewahrt.

Quelle: ntv.de, mit Enrique Ubieta sprach Manfred Bleskin

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