Presseschau "Wettfahrt hat begonnen"
22.04.2002, 10:25 UhrDie Meinungen in Deutschlands Tageszeitungen zur Wahl in Sachsen-Anhalt teilen sich: Einige warnen die Unionsparteien vor all zu viel Euphorie in Bezug auf die Bundestagswahlen im Herbst, andere sehen die Wahl als Stimmungstrend und sagen somit der SPD ein ähnliches Schicksal in Berlin voraus. n-tv.de hat die unterschiedlichen nationalen und internationalen Stimmen zusammengestellt:
"Handelsblatt"
"... Der Schlag von Sachsen-Anhalt trifft Schröder in der vielleicht schwierigsten Phase seiner Amtszeit. ..Der Nimbus der Ohnmacht, verbunden mit dem Makel einer furchtbaren Wahlniederlage, ist eine gefährliche Melange, die Schröder am Ende doch noch das Kanzleramt kosten könnte. Herausforderer Stoiber dagegen kann mit Blick auf die Bundestagswahl triumphieren: Nicht nur der Sieg an sich, auch die Verbindung mit der FDP in einem solchen Augenblick des schieren Erfolges ist schon wie der Vorgeschmack auf den Großen Preis von Deutschland. Denn ist es vorstellbar, dass sich die FDP offenbar nun wirklich auf dem Trip zum Projekt 18 Prozent im Stammland Hans- Dietrich Genschers mit der Vorzeigefrau Conny Pieper die Macht mit der Union teilt, im Bund aber nicht? Stoiber im Glück, Schröder in Zugzwang. Die Wettfahrt der beiden Chefpiloten hin zum 22. September, sie hat gestern Abend erst richtig begonnen."
"Die Welt "
"Was lehrt uns Sachsen-Anhalt? Zwei Dinge: Zum einen steckt die Sozialdemokratie in einer viel schlechteren Lage als viele dachten. Nicht nur die Skandale nagen am Selbstwertgefühl; man hat sich vor allem im eigenen Rollenspiel verheddert. In ihren heiklen Bündnissen mit Grünen und Kommunisten wirkt die SPD merkwürdig seelenlos. Da ihr das linke Traditionsherz aus dem Leibe gerissen wurde, ist das emotionale Charisma dahin. Wahrscheinlich fehlt der SPD ein Oskar Lafontaine viel mehr als man ahnte. Zum anderen formiert sich wieder so etwas wie ein bürgerliches Lager als politische Gestaltungsmacht. Fünf Monate vor der Bundestagswahl weht ein Hauch von Wechselstimmung durchs Land."
"Berliner Zeitung"
"Ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl muss Gerhard Schröder der Fülle schlechter Nachrichten eine weitere hinzufügen: Die Kölner Spendenaffäre ist längst nicht überstanden, Münteferings unglücklicher Auftritt im Untersuchungsausschuss wirkt nach, ganz zu schweigen von den problematischen Wirtschaftsdaten, vom drohenden Streik in der Metallindustrie - jetzt auch noch Sachsen-Anhalt. Der Stimmungstest, den jede Landtagswahl für die Bundespolitik mit sich bringt, ist eindeutig ausgefallen: Schröders Wähler sind ausgesprochen schlecht gelaunt. Die Parole, die im Kanzleramt und im Willy-Brandt-Haus am Abend der Niederlage ausgegeben wird, ist eindeutig: Augen zu und durch."
"Hessische/Niedersächsische Allgemeine Zeitung"
"Verheerende Wirtschaftsdaten und kaum Aussicht auf Besserung - kein Wunder, dass eine Landesregierung vom Wähler bestraft wird. Und wenn sich erst der erhoffte Rückwind aus der Bundespolitik als scharfer Gegenwind erweist, dann wird aus der befürchteten Niederlage ein Desaster. Reinhard Höppner hat ein solches gestern erlebt. Der SPD-Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt bekam eine Quittung für seine erfolglose Wirtschaftspolitik und seinen ergebnislosen Flirt mit der PDS. Nur konsequent, dass der ebenso spröde wie bescheidene Mann seinen Ausflug in die Politik mit dem Wahltag beendet hat. Auf die Wahlsieger CDU und FDP warten Aufgaben von herkulischen Dimensionen. Fraglich, ob Wolfgang Böhmer und Cornelia Pieper dafür die richtige Statur haben; sicher aber, dass sie dem bislang trägen Wahlkampf von Edmund Stoiber neuen Schwung geben dürften. Allerdings ist schon manch Kanzlerkandidat daran gescheitert, Stimmungen bei Landtagswahlen in Stimmen für den Bundestag umzumünzen."
"Frankfurter Rundschau"
"Höppner konnte nicht so schön reden wie der Kanzler, er konnte auch die Dinge nur in Maßen schönreden. Den mächtigen Landesvater zu mimen, der die Gegner in die Schranken und dem Land die Richtung weist - dafür fehlte dem freundlich vermittelnden Mathematiker die Statur. Da ist Schröder aus anderem Holz geschnitzt. Aber eins darf er sich ruhig merken: Höppner hat zu lange darauf vertraut, dass die Leute ihm am Ende schon vertrauen würden. Dabei hätten sie vielleicht gern genauer gewusst, wie ein sozialdemokratischer Aufbruch aus der Regierung heraus aussieht. Als starke Alternative zur schwachen Alternative Union wird sich die SPD erst noch aufstellen müssen, wenn sie Höppners Schicksal nicht bundesweit teilen will - was allerdings nach diesem Wahltag wahrscheinlicher ist denn je."
"Süddeutsche Zeitung"
"... In Sachsen-Anhalt bahnt sich nun eine CDU/FDP-Koalition an. Beide Parteien werden vom "wind of change" reden, der nun ganz Deutschland erfassen soll. Man mag Zweifel haben, ob so ein Wind aus einem Land kommen kann, in dem die Hälfte der Leute nicht zur Wahl geht und in dem man zuletzt den Eindruck hatte, dass alles steht, sogar die Luft. Was bedeutet das alles für Gerhard Schröder? Er wird seine SPD erst einmal aus der sachsen-anhaltinischen Schockstarre befreien müssen. Und dann wird er, noch virtuoser als bisher, das tun, was er schon bisher getan hat: sich alle Optionen für jedwede Koalition offen halten. "
"Der Standard" (Österreich)
"Trotz dieses SPD-Debakels ist der Versuch der CDU, die Landtagswahl als gutes Orakel für die Bundestagswahl im September zu deuten, nicht zulässig. ... Wie die zweistelligen Verluste beziehungsweise Gewinne bei der SPD sowie der CDU und FDP zeigen, sind die Wähler in Ostdeutschland schwieriger zu kalkulieren. Ihre Parteienbindung ist geringer ausgeprägt. Sie strafen auch stärker ab. Die Politiker müssen sich demnach mehr anstrengen, sonst bekommen sie unmittelbar die Quittung der Wähler."
"The Times " (Großbritannien)
"Die Wähler in Deutschlands ärmstem Land haben Kanzler Gerhard Schröder eine verheerende Schlappe beigebracht und Zweifel daran aufkommen lassen, dass er die Bundestagswahl im Herbst noch gewinnen kann. Herr Schröder war schnell dabei, die Wahl als eine lokale Angelegenheit zu beschreiben und damit die Schuld auf den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Reinhard Höppner abzuschieben. Doch die Niederlage ist viel mehr als nur eine lokale Angelegenheit. Sie lässt an der Fähigkeit des Kanzlers zweifeln, bei der Bundestagswahl die Unterstützung der ostdeutschen Wähler zu gewinnen. "
Quelle: ntv.de