Politik

Das Narrativ des Westens Wie gefährlich wird Russland für Putin?

Für eine Festnahme in Russland reicht es, die "Militäroperation in der Ukraine" als Krieg zu bezeichnen.

Für eine Festnahme in Russland reicht es, die "Militäroperation in der Ukraine" als Krieg zu bezeichnen.

(Foto: picture alliance/dpa/TASS)

Ob die Proteste in Russlands Großstädten oder die mutige Nachrichtenredakteurin Owssjannikowa - etliche Szenen russischen Widerstands gegen den Krieg in der Ukraine flimmern über die Bildschirme des Westens. Werden die Anti-Kriegs-Proteste tatsächlich zur Gefahr für das Putin-Regime?

Dunkel vermummte russische Polizisten mit schweren Helmen und schusssicheren Westen packen einen jungen Mann an Armen und Beinen, verkünden ihm seine Festnahme und verfrachten ihn im Einsatzwagen. Das Vergehen des jungen Russen: Er hat demonstriert - gegen den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine. In westlichen Medien landen etlicher solcher Szenen. Schon über 15.000 Menschen hat die russische Polizeisondereinheit "OMON" aus diesem Grund in Gewahrsam genommen. Mal ist es ein junger Mann, mal eine ältere Frau mit Plastiktüte und selbst Schulkinder wurden bereits abgeführt. Es wirkt beinah paranoid, dass es für eine Festnahme reicht, ein blankes Blatt Papier zu zeigen, macht aber den Versuch des Kremls deutlich, jeden Anflug von Andersdenken im Keim zu ersticken. Muss sich das Regime Putin tatsächlich vor dem eigenen Volk fürchten?

Die Polizei verhaftete die 77-jährige Yelena Osipova während eines Anti-Krieg-Potests in Sankt-Petersburg.

Die Polizei verhaftete die 77-jährige Yelena Osipova während eines Anti-Krieg-Potests in Sankt-Petersburg.

(Foto: REUTERS)

Die Zehntausenden Demonstranten, die gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und den Krieg in der Ukraine auf die Straße gehen, sind laut, gemessen an den rund 144 Millionen Einwohnern des riesigen Landes jedoch deutlich in der Minderheit. Gegen die russische Protestwelle von 2011 bis 2013 wirken die Anti-Kriegs-Aktionen noch marginaler. Ausgelöst durch Putins Verkündung, wieder Präsident werden zu wollen und zahlreiche Wahlfälschungen bei den Duma-Wahlen gingen damals Hunderttausende auf die Straßen Russlands.

"Auch danach gab es große Proteste in Russland", erinnert Jan Matti Dollbaum von der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen gegenüber ntv.de. "Zuletzt im Januar 2021, als über 160.000 Menschen russlandweit gegen die Verhaftung des Oppositionspolitikers Aleksei Navalny protestierten." 2018 haben sich die Russen stark eingesetzt, als die Erhöhung des Rentenalters verkündet wurde und 2019 gingen 60.000 Menschen allein in Moskau auf die Straße, weil Oppositionskandidaten nicht zu den Wahlen zugelassen wurden. Dass die Demonstrationen nun wesentlich kleiner ausfallen, liege nicht an einer veränderten Protestkultur der Russinnen und Russen, erklärt Dollbaum. Vielmehr habe der Kreml die Rahmenbedingungen grundlegend verändert.

Das offizielle Russland ist nicht im Krieg

Das beginnt bereits beim Protestgrund. Für viele Russen ist die Notwendigkeit, auf die Straße zu gehen, viel weniger offensichtlich als nach den Wahlfälschungen oder der Inhaftierung Nawalnys. Denn das offizielle Russland ist nicht im Krieg - die Realität der Ukraine findet in Russlands Medien nicht statt. Stattdessen wabert das Narrativ der "Spezialoperation in der Ukraine" durch Fernsehen, Radio und Kreml-nahe soziale Medien wie VK.com. Überall heißt es, das Land müsse denazifiziert und demilitarisiert werden. "Es ist nicht verwunderlich, dass viele Russinnen und Russen an dieses Narrativ glauben und daher nicht auf die Straße gehen", sagt Politikwissenschaftler Nils Weidmann von der Universität Konstanz im Gespräch mit ntv.de. Denn der Großteil Russlands sei auf diese Mainstream-Medien angewiesen. "Wahre Fakten und Bilder muss ich mir in Russland aktiv besorgen. Dafür müsste ich wiederum die richtigen Kanäle kennen, denn beworben werden diese natürlich nicht", erklärt der Experte für Protestbewegungen und politische Mobilisierung.

Vielen Bürgern fehle bereits der Wille dazu, sagte Denis Volkov, der Leiter des unabhängigen Levada-Zentrums in Moskau, im Interview mit der Investigativ-Plattform "Meduza". Die Darstellung in den Mainstream-Medien sei für sie plausibel genug, denn sie basiere auf der jahrelangen Erzählung vom aggressiven Westen, der Druck auf die Ukraine ausübe und "etwas gegen die nicht anerkannten Republiken" Donezk und Luhansk plane, erklärte Volkov. Die dort lebende russischsprachige Bevölkerung werde schon seit langem unterdrückt und bedroht, heißt es in der Erzählung. Was kann also falsch an Putins Plan sein, gegen den "Genozid an den eigenen Leuten" zu kämpfen?

Um dieses Narrativ möglichst lange aufrechtzuerhalten, legt die russische Regierung nach. "Der bis dato akzeptierte Diskurs wurde in den vergangenen Tagen massiv runter- und die Zensur hochgeschraubt", sagt Weidmann. Die sozialen Netzwerke Twitter, Facebook und Instagram sind mittlerweile verboten, ausländische Nachrichtenseiten wie die der "Deutschen Welle", von BBC oder "Voice of America" sind gesperrt. Wer Nachrichten über den Krieg in der Ukraine verbreitet, dem drohen dank einem neuen Gesetz 15 Jahre Haft. Die Konsequenz: Viele Medienhäuser schließen - die Übrigen stehen unter massivem Druck. "Damit ist es nun eigentlich unmöglich, an echte Bilder aus der Ukraine zu kommen", sagt Weidmann. "Selbst wenn man wollte."

70 Prozent stehen hinter Putin

Gleichzeitig erhöht Putin den Druck auf die Gesellschaft: Mit fahnenschwenkenden Menschenmengen und hupenden Autokorsos inszeniert er das Bild einer geschlossenen, dem Krieg zujubelnden Masse. Das "Z"-Symbol, das für die Unterstützung des Kremls steht, ist allgegenwärtig in Russland und schließlich spricht Putin im vollbesetzten Moskauer Olympiastadion über ihm gegenüber kritisch Eingestellte als "Gesindel" und "Verräter", während sein Sprecher mit einer "Säuberung" droht. Jeder noch so kleine Anschein von Regime-Kritik endet in Handschellen. Wer an Putins Politik zweifelt, wird sich also künftig noch genauer überlegen, dies öffentlich zu tun, denn er riskiert mitunter seinen Job, sein Studium und seine Freiheit.

Marina Owssjannikowa fürchtet nach ihrer Protestaktion im russischen Fernsehen um ihr Leben.

Marina Owssjannikowa fürchtet nach ihrer Protestaktion im russischen Fernsehen um ihr Leben.

(Foto: --/Twitter/dpa)

Dass die Propaganda wirkt, zeigen Umfragen des Levada-Zentrums und des Meinungsforschungsinstituts WZIOM. Über 70 Prozent der befragten Russen sprechen sich Anfang März für die Durchführung der "speziellen Militäroperation" aus - viele verbinden sogar Gefühle wie Stolz, Hoffnung oder Freude mit dem "Einsatz". Volkov glaubt allerdings nicht, dass ein solch großer Teil der Russen kriegsbegeistert sei. Vielmehr komme der Propaganda eine gewisse "Nachrichtenmüdigkeit" über die Situation in der Ukraine zugute. Seit nun rund acht Jahren, seit der Annexion der Krim, beschäftigen sich die Russen mit ihrem Nachbarland. Viele wollen von dem Thema "einfach nichts mehr hören und nichts mehr wissen". Der Soziologe geht sogar davon aus, dass die Unterstützung für die derzeitige Politik nicht auf tatsächlicher "Mobilisierung, sondern auf Ermüdung" basiert.

Vor dem Hintergrund dieser Gleichgültigkeit, der Desinformationen und der drohenden Repressionen spricht also viel für eine schweigende Mehrheit in Russland. Auch, wenn sie den Krieg in der Ukraine nicht aktiv unterstützen, gehen sie eben auch nicht auf die Straße, um sich dagegen zu wehren. Die derzeitigen Anti-Kriegs-Aktionen "sind ausschliesslich eher seltene urbane Phänomene", erklärt Politikwissenschaftler Weidmann. "Von diesen Protesten gegen Putin hört der Westen natürlich gerne." Somit werden die "ganz kleinen Keimzellen von zivilem Ungehorsam, Protest und Opposition, die in Russland stattfinden, in unseren Medien überbetont". Das sei zwar nicht ungewöhnlich, so der Experte. "Wir stellen uns so jedoch eine größere Kremlkritik vor, als da in Wirklichkeit ist."

Putins Achillesferse

Der Kreml schafft es, vielen Russen die Ambition zum Protestieren zu nehmen. Hinzu kommt das Risiko, verfolgt und bestraft zu werden. Es gebe allerdings noch einen weiteren Grund für die verhaltene Protestbewegung in Russland, sagt Dollbaum. "Die Menschen haben niemanden mehr im Rücken, der sie koordiniert."

In den vergangenen Jahren, "insbesondere seit 2021, hat das Regime alles dafür getan, die Organisationsfähigkeit von Protesten de facto zu eliminieren", erklärt der Osteuropa-Experte. So gab es nach den Wahlfälschungen zumindest Oppositionspolitiker wie Alexej Nawalny oder Boris Nemzow - deren Protesten schloss sich ein großer Teil der Bevölkerung an. Während Nemzow nicht mehr am Leben ist, "sind alle anderen Oppositionellen in Haft oder im Exil", sagt Dollbaum. Hinzu wurden viele Nichtregierungsorganisationen verboten. Durch die Einschränkung der Meinungsfreiheit sind bereits in den vergangenen Jahren viele Russen, "die Erfahrung und Ressourcen" für die Organisation von Gegenbewegungen haben, geflohen. Wer blieb, flüchtet jetzt mit den neusten Verschärfungen durch das russische Regime. "Wer zurzeit demonstriert, tut dies aus eigenem Antrieb, ohne jede Vernetzung", so Dollbaum.

Für einen Sturz Putins müssten außerdem die Eliten aus Politik, Wirtschaft und Militär mitmachen. "Nach allem, was wir wissen, ist in der wirtschaftlichen und politischen Elite die Bestürzung groß", erklärt der Experte. Trotzdem werde sich keiner trauen auszuscheren, "solange alle erwarten, dass Putin Loyalität belohnen und Abweichung bestrafen wird".

Wann kippt es?

Putin hat also vorgesorgt und möglichen Kritikern die Organisationsfähigkeit genommen. Er tat dies aus gutem Grund, denn Putins größte Sorge ist jener Anführer, der bis jetzt noch gar nicht bekannt ist und dessen Proteste sich die Menschenmassen anschließen, wie der ehemalige Botschafter in Moskau, Rüdiger von Fritsch im "Deutschlandfunk" erzählte. Der Ex-Diplomat vergleicht Putins Achillesferse mit Danzig 1980, als "ein bis dato unbekannter Elektriker aus Verzweiflung über die wirtschaftliche Lage auf's Dach kletterte und rief: Mir nach!". Aus solchen Situationen entstehen Massenbewegungen.

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Auch Osteuropa-Experte Dollbaum geht davon aus, dass die Sanktionen und die kommende Wirtschaftskrise Russlands die Motivation zu Protesten vervielfältigen werden. "Die Wut über Arbeitslosigkeit, nicht ausgezahlte Gehälter und hohe Lebensmittelpreise wird weitere Bevölkerungsgruppen auf den Plan rufen", sagt er. Allerdings heiße das noch nicht, dass die Menschen auch das Ende des Kriegs fordern. Die ökonomischen Probleme müssten erst einmal mit dem Handeln des russischen Regimes in Verbindung gebracht werden. Im Moment gehen die Russen allerdings davon aus, dass der Westen die Sanktionen ohnehin verhängt hätte, ganz gleich wie sich Russland verhalte, schreibt Volkov in einer Analyse des Levada-Zentrums.

Schneller als die ökonomischen Probleme könnten die militärischen Opfer von der russischen Bevölkerung mit dem Krieg in Verbindung gebracht werden. Denn dem russischen Regime wird es auf Dauer nicht gelingen, mehr und mehr tote Soldaten, Freunde, Bekannte und Söhne zu verschweigen. Die Anti-Kriegs-Proteste haben somit Potenzial zu wachsen. Experte Dollbaum bremst jedoch die Euphorie, dass dies baldige Auswirkungen auf die Kriegshandlungen des Kremls haben könnte. "Die Repressionsinstrumente des Staates sind zwar schon jetzt brutal - aber noch lange nicht erschöpft." In echte Bredouille bringen die Proteste den Staat und das Regime Putin erst, wenn sie mehrere Hunderttausende Menschen pro Stadt umfassen, so Dollbaum. "Das ist kein sehr realistisches Szenario."

Quelle: ntv.de

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