Verhinderte Schreibfehler weitere FBI-Untersuchung? Zarnajew droht die Todesstrafe
23.04.2013, 06:31 Uhr
Eine Woche nach dem Attentat gedenken die Menschen in Boston der Opfer.
(Foto: AP)
Der überlebende mutmaßliche Attentäter von Boston muss sich vor einem Zivilgericht für den Tod von drei Menschen verantworten. Laut Anklageschrift wird ihm der Gebrauch von Massenvernichtungswaffen vorgeworfen. Ihm droht die Todesstrafe. In Boston wird indes das erste der drei Bombenopfer beigesetzt.
Eine Woche nach dem Terroranschlag beim Boston Marathon ist gegen einen der mutmaßlichen Attentäter Anklage erhoben worden. Der 19-jährige Dschochar Zarnajew muss sich vor einem Zivilgericht wegen des Gebrauchs von Massenvernichtungswaffen verantworten. Eine Richterin verlas dem durch mehrere Schusswunden Verletzten am Montag (Ortszeit) die Anklageschrift am Krankenbett in einer Bostoner Klinik. Dem Angeklagten droht die Todesstrafe.
Zwar wurde im Bundesstaat Massachusetts die Todesstrafe in den 80er Jahren abgeschafft. Zarnajew wird allerdings nach US-Bundesrecht angeklagt. Zuständig für den Fall ist die Staatsanwältin Carmen Ortiz. Ihr ist vorgeworfen worden, zu hart gegen Angeklagte vorzugehen. Unter anderem war sie für den mutmaßlichen Hacker Aaron Swartz zuständig, der im Januar Selbstmord beging. Internet-Aktivisten hatten anschließend ihre Absetzung gefordert.
Zarnajew solle für den Tod von drei Menschen und die Verletzungen von 200 weiteren zur Verantwortung gezogen werden, teilte US-Generalstaatsanwalt Eric Holder in Washington mit. Außerdem für die Zerstörung, die die Bomben am 15. April im Zielbereich des Marathons anrichteten. Sein Bruder und mutmaßlicher Komplize Tamerlan Zarnajew war bei einer Verfolgungsjagd mit der Polizei am Freitag ums Leben gekommen.
"Das Ausmaß dieser Verbrechen ist groß und betrifft eine weltweite Gemeinschaft, die Frieden und Gerechtigkeit will", sagte die Staatsanwältin von Massachusetts, Carmen Ortiz. "Wir hoffen, dass diese Anklage der gesamten Öffentlichkeit sowie den Opfern und ihren Angehörigen Mut macht, dass das Recht waltet."
Gab es einen Rechtschreibfehler?
Wie der US-Sender CNN unter Berufung auf Angaben von Regierungsbeamten berichtete, habe der 19-Jährige den Ermittlern zu verstehen gegeben, dass sein älterer Bruder Tamerlan die treibende Kraft hinter Planung und Ausführung des Anschlags gewesen sei und dass der 26-Jährige mit der Tat den Islam habe verteidigen wollen. Den Angaben zufolge handelten die Brüder allein. Eine internationale Terrororganisation stecke nicht hinter der Tat, soll Dschochar Zarnajew erklärt haben. Familienangehörigen zufolge besuchte Tamerlan im vergangenen Jahr seine Verwandten in Tschetschenien. US-Ermittler gingen dem Verdacht nach, ob er dort Kontakt mit Separatisten oder islamischen Extremisten hatte.
Nach Aussagen eines US-Senators könnte dabei ein simpler Rechtschreibfehler eine rechtzeitige Überprüfung der späteren Attentäter verhindert haben. Der ältere der beiden mutmaßlichen Täter habe wegen eines falsch buchstabierten Namens unbemerkt nach Russland reisen können, sagte der Republikaner Lindsey Graham.
Graham führte aus, die US-Bundespolizei FBI habe ihn darüber informiert, dass Dschochars älterer Bruder Tamerlan Zarnajew den russischen Behörden und ihren US-Kollegen wohl auch durch einen Rechtschreibfehler nicht aufgefallen sei. "Wir wissen nicht, ob er ihn selbst falsch buchstabiert hat", sagte der Senator - oder ob es die russische Fluggesellschaft Aeroflot war, mit der Zarnajew einst flog.
Die Ermittlungen konzentrieren sich nun auf eine knapp sechsmonatige Reise, die Tamerlan Zarnajew im Jahr 2012 in die russische Kaukasusrepublik Dagestan führte. Dort sei er "mindestens vier Mal ins Visier der Sicherheitskräfte geraten", hieß es von örtlichen Behördenvertretern. Grund waren Treffen mit einem jungen Mann, der Verbindungen zur islamistischen Untergrundbewegung unterhielt.
Keine Anklage vor Militärgericht
Während der Anklageverlesung sei Zarnajew "wach, mental aufnahmefähig und bei klarem Verstand" gewesen, gab Richterin Marianne B. Bowler zu Protokoll. Auf die Frage, ob der infolge seiner Verletzungen sprechunfähige Angeklagte in der Lage sei, einige Fragen zu beantworten, habe er deutlich genickt. Ein einziges Wort habe Zarnajew gesagt und dies sei ein "Nein" auf die Frage gewesen, ob er sich einen Anwalt leisten könne. Zarnajew erlitt bei einer Schießerei mit der Polizei einen Mund-Durchschuss, den er sich Ermittlern zufolge wohl bei einem Selbstmordversuch zufügte, sowie eine Schussverletzung am Bein.
Zuvor hatte die US-Regierung erklärt, der 19-Jährige komme nicht vor ein Militärgericht. Dies sei für US-Bürger nicht möglich. "Er wird nicht als feindlicher Kämpfer behandelt", sagte der Sprecher des Weißen Hauses, Jay Carney. Damit hat Zarnajew das Recht, zu den Vorwürfen zu schweigen und einen Anwalt zu hinzuzuziehen. Nach Informationen des Fernsehsenders CNN soll der Prozess am 30. Mai beginnen.
Ein FBI-Agent erklärte am Montag unter Eid, dass Videoaufnahmen vom Tatort die zahlreichen Indizien gegen das Bruderpaar weiter erhärten. Darauf seien die beiden elf Minuten vor der ersten Explosion zu sehen, wie sie die Boylston Street entlang der Marathon-Strecke in Boston ablaufen. Die Bilder zeigten zudem, wie Dschochar Zarnajew die zweite Bombe platziere und nach der ersten Detonation seelenruhig den Schauplatz des Anschlags verlasse. Bei der Suche nach den genauen Hintergründen der Tat nehmen die Ermittler derzeit neben Telefonverbindungen und Banküberweisungen auch die Computer der Beschuldigten unter die Lupe.
Marathon symbolisch zu Ende gelaufen
Genau eine Woche nach dem Bombenanschlag gedachten die Bewohner des US-Bundesstaates Massachusetts am Montag in einer Schweigeminute der Opfer. Auf den Punkt um 14.50 Uhr (Ortszeit), dem Zeitpunkt der ersten Explosion, stand das Leben für eine Minute still. Anschließend läuteten in ganz Massachusetts die Kirchenglocken. US-Präsident Barack Obama nahm in Washington an der Schweigeminute teil.
Eine Gruppe von Teilnehmern am Boston-Marathon lief die Strecke zudem symbolisch zu Ende. "Es ist toll, Teil dieser Gruppe zu sein und zu zeigen, dass diese Stadt zwar verletzt wurde, aber nicht am Boden liegt", sagte eine Läuferin dem Sender CNN. Der Marathon war nach den Explosionen am 15. April abgebrochen worden.
Am Montag wurde auch das erste der drei Bombenopfer beigesetzt. Hunderte Trauergäste verabschiedeten sich von der 29-jährigen Krystle Campbell in ihrer Heimatstadt Medford. "Sie hatte ein Herz aus Gold", sagte ihre weinende Mutter Patty Campbell. Ihre Tochter, eine Restaurantmanagerin, war unter den Zuschauern, als die Sprengsätze kurz vor der Ziellinie detonierten. Außer der jungen Frau starben auch ein achtjähriger Junge und eine chinesische Studentin der Boston University. Für die 23-Jährige gab es dort am Montagabend (Ortszeit) eine Trauerfeier.
US-Vizepräsident Joe Biden wird derweil Medienberichten zufolge am Gedenkgottesdienst für den nach dem Boston-Attentat getöteten Polizisten der Eliteuniversität MIT teilnehmen. Der 26-Jährige war bei einer Auseinandersetzung mit den mutmaßlichen Attentätern erschossen worden.
Kritik an FBI nimmt zu
Von den Verletzten des Anschlags befindet sich anscheinend niemand mehr in kritischem Zustand. "Ich bin zuversichtlich, dass wir keinen Patienten verlieren werden", sagte George Velmahos, Traumaspezialist des örtlichen Massachusetts General Hospital.
Die US-Bundespolizei FBI gerät derweil immer mehr in die Kritik, weil sie Hinweise aus Russland auf eine mögliche Radikalisierung des 26 Jahre alten Tamerlan Zarnajew nicht ernst genommen haben soll. Die Kongressabgeordneten Michael McCaul und Peter T. King sprachen von einem "geheimdienstlichen Versagen", wie die "New York Times" berichtete.
Der Fall werfe ernsthafte Fragen über die Wirksamkeit der Terrorismusbekämpfung in den USA auf, schrieben die beiden Republikaner in einem an das FBI, das Heimatschutzministerium und den Chef der Nationalen Nachrichtendienste adressierten Brief, aus dem auch "USA Today" zitierte. McCaul ist der Vorsitzende des Ausschusses für Heimatschutz im US-Repräsentantenhaus und hat Zugang zu Geheimdienstinformationen, auch King ist Terrorismusexperte.
Diese Panne wird auch zum Thema im US-Repräsentantenhaus, wo sich führende Sicherheitsbeamte den Fragen stellen sollen. Dabei dürfte es um den Vorwurf gehen, Warnsignale einer möglichen Radikalisierung von Tamerlan Zarnajew übersehen zu haben.
Der getötete Tamerlan Zarnajew sei bereits der fünfte Verdächtige seit den Anschlägen vom 11. September 2001, dem Verstrickungen in einen terroristischen Angriff vorgeworfen würden, während er unter FBI-Beobachtung gestanden habe, hieß es. Tamerlans Frau, eine zum Islam konvertierte US-Bürgerin, die von ihm eine Tochter hat, weigerte sich, mit der Polizei zu sprechen, wie US-Medien unter Berufung auf ihren Anwalt berichteten.
Quelle: ntv.de, dpa/rts/AFP