Türkische Protestbewegung trotzt Polizeigewalt Zurück zum Taksim-Platz
12.06.2013, 15:30 Uhr
Dieser Demonstrant schützt sich mit einer Gasmaske Marke Eigenbau gegen das Tränengas der Polizei.
(Foto: AP)
Die türkische Polizei sorgt auf dem Taksim-Platz in Istanbul für eine Nacht der Gewalt. Doch Erdogans Politik der Härte schüchtert die Demonstranten nicht ein. Stattdessen kontern sie sein brutales Vorgehen mit Mut und Witz - und münzen Schimpfwörter zu Ehrenbezeichnungen um.
Die türkische Protestbewegung bietet der Regierung auch nach der schweren Eskalation der Polizeigewalt auf dem Taksim-Platz in Istanbul die Stirn. Zwar räumte die Polizei nach stundenlangen Auseinandersetzungen und Tränengasangriffen den Platz in der Nacht. Dennoch hielten Gruppen der Protestierer am Mittwoch dort weiter in einem Protestcamp aus, wie Augenzeugen sagten.
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan wollte Künstler und Vertreter der Protestbewegung noch am Nachmittag zu einem Gespräch treffen, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete. Die türkische Rundfunkbehörde RTÜK ging derweil gegen kritische Sender vor.
Bürger sollen dem Taksim-Platz fernbleiben
Der Großeinsatz der Polizei gegen die Demonstranten auf dem Taksim-Platz hatte die Lage nach zehn Tagen wieder dramatisch verschärft. Der Gouverneur von Istanbul, Hüseyin Avni Mutlu, beschuldigte die Demonstranten, die Polizei angegriffen zu haben. Der Polizeieinsatz auf dem Platz werde so lange fortgesetzt wie nötig, sagte er. Der Gouverneur forderte die Bürger Istanbuls auf, sich vom Taksim-Platz fernzuhalten, bis Sicherheit hergestellt sei.
Der Sender Halk TV, der anders als Nachrichtensender der türkischen Medienkonzerne durchgehend über die Demonstrationen berichtet, sei wie drei weitere Stationen zu einer Geldstrafe verurteilt worden, berichteten türkische Medien. Die Rundfunkbehörde wirft den TV-Stationen vor, gegen Sendeprinzipien ver stoßen zu haben und mit ihren Programmen die physische, geistige und moralische Entwicklung junger Menschen zu gefährden, wie es weiter hieß.
International wachsen Besorgnis und Kritik wegen des Vorgehens der türkischen Polizei. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) forderte nach Angaben von Regierungssprecher Steffen Seibert "konstruktive Gespräche durch Besonnenheit aller Seiten". Außenminister Guido Westerwelle (FDP) rief zur Zurückhaltung auf. "Die türkische Regierung sendet mit ihrer bisherigen Reaktion auf die Proteste das falsche Signal, ins eigene Land und auch nach Europa", sagte Westerwelle. "Wir erwarten, dass Ministerpräsident Erdogan im Geiste europäischer Werte deeskaliert und einen konstruktiven Austausch und friedlichen Dialog einleitet."
Bemühungen um einen friedlichen Dialog zerstört
UN-Generalsekretär Ban Ki Moon rief alle Beteiligten zu Ruhe und friedlichem Dialog auf. "Proteste sollten friedlich sein, und das Recht auf Versammlung und freie Meinungsäußerung sollte respektiert werden, denn das sind fundamentale Prinzipien eines demokratischen Staates", sagte sein Sprecher in New York.
Die türkische Regierung habe mit der Entscheidung, den Taksim-Platz in der Nacht durch die Polizei räumen zu lassen, Bemühungen um einen friedlichen D ialog zerstört, kritisierte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. "Tränengas auf Zehntausende Menschen auf dem Taksim-Platz zu feuern, wird die Krise nicht lösen."
Im Protestlager der Demonstranten im Gezi-Park hielten am Morgen mehrere hundert Menschen nach Angriffen der Polizei die Stellung. Mit dünnen Regenmänteln bekleidet schoben sie Müll zusammen. Was die Polizei in der Nacht nicht zerstört hatte, wurde von einem Regen dahingerafft.
Auch Selma Barbaros von der linken Partei der Arbeit (Emek Partisi) beteiligt sich im blauen Regencape am Großreinemachen. Mit den Fingern kratzt sie durchfeuchtete Plakate von einem Info-Tisch. "Ein Freund von mir ist letzte Nacht von einer Tränengas-Patrone am Bein verletzt worden", sagt sie. Bis zu der Treppe, die den Park vom Taksim-Platz trennt, seien die Polizisten vorgedrungen. Dass einige Demonstranten auf den massiven Tränengas-Einsatz mit Steinen und anderen Wurfgeschossen reagierten, findet sie "normal, wenn man angegriffen wird".
Ehrenvolle Plünderer
Wie sehr die Demonstrationen schon zum Alltag in den türkischen Großstädten geworden sind, zeigt ein Begriff, der eigentlich als Beleidigung gemeint ist - und mittlerweile zur Ehrenbezeichnung geworden ist. Erdogan nannte die Mitglieder der Protestbewegung abfällig Capulcular (sprich: Tschapuldschular) - Plünderer. Damit wollte er zum Ausdruck bringen, dass es vielen Demonstranten nicht um legitime demokratische Forderungen gehe, sondern um Randale und Zerstörung. Doch der Schuss ging für Erdogan nach hinten los. Die Protestbewegung nahm den Begriff dankend auf und bezeichnet nun ihre eigenen Anhänger selbst als Capulcu - nach dem Motto, dass es eine Ehre sei, von Erdogan beschimpft zu werden.
So gibt es inzwischen "Capul TV", einen improvisierten Fernsehsender der Demonstranten. Als Musiker eines Orchesters den Demonstranten im Istanbuler Gezi-Park mit einem Ständchen Mut machten, wurde das Stück sofort als "Capulcu-Sinfonie" bekannt. Auf Plakaten taucht Capulcu als Definition des politisch unabhängigen Demonstranten auf: Ich bin kein Rechter, ich bin kein Linker, ich bin ein Capulcu, heißt es darauf. Selbst im Fernsehen ist der Begriff salonfähig geworden. In einer Quiz-Sendung wurde Capulcu als richtige Antwort verwendet. Sollten die Unruhen in der Türkei noch länger andauern, könnte Capulcu am Ende noch als feststehender Begriff in den türkischen Sprachschatz Eingang finden - aber ganz anders, als Erdogan das wollte.
Quelle: ntv.de, dpa/jve