Dossier

Studieren für den Wiederaufbau Afghanen in Erfurt

In seiner Heimat gibt es viele Dinge, die für Sayer Niamatullah unerträglich sind. Dass er immer ein Bündel Geldscheine dabei haben muss, zum Beispiel. "Weil in Afghanistan nichts ohne Bestechung funktioniert." Nach jahrelangem Bürgerkrieg und der Herrschaft der Taliban ist sein Land immer noch zerrissen von Korruption und Terror. Weil er das ändern will, sitzt der 29 Jahre alte Projektmanager eines Straßenbau-Unternehmens jetzt rund 5000 Kilometer von seiner Heimat entfernt in der Erfurter School of Public Policy. Zusammen mit 14 anderen Afghanen will er in den nächsten drei Jahren lernen, wie "gutes Regieren" funktioniert. Das bisher einmalige Projekt wird von der Bundesregierung mit jährlich 300.000 Euro gefördert.

Das Geld stammt aus dem "Stabilitätspakt Afghanistan", einem Sonderprogramm des Auswärtigen Amtes und des Entwicklungsministeriums. "Bildung ist ein Schwerpunkt der Aufbauhilfe, denn sie ist der Grundstein der zivilen Gesellschaft", sagt Alexander Kupfer vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD). Er koordiniert die Bildungsoffensive der Bundesregierung in Afghanistan, zu der seit 2003 ein reger Austausch zwischen den Hochschulen beider Länder gehört. Jetzt werden erstmals auch die Führungseliten in den Blick genommen.

System von innen verändern

Dazu zählen Sayer Niamatullah und seine Landsleute. Ein Komitee des DAAD und der Erfurter Schule hat sie aus mehr als 60 Bewerbern ausgewählt. Alle haben bereits studiert - in Afghanistan oder im Exil in Pakistan. Nach der Vertreibung der Taliban vor sieben Jahren haben sie in ihrer Heimat verantwortungsvolle Posten besetzt. Der 32-jährige Mohammad Fawad Anwarzai zum Beispiel leitete die Abteilung für Information und Kommunikation von Staatschef Hamid Karzai. Seine 26 Jahre alte Frau baute als Betriebswirtin bei einer amerikanischen Hilfsorganisation das Bildungssystems in Kabul mit auf.

Trotz ihrer guten Positionen sind sie jetzt nach Erfurt gekommen, um dort noch einmal zu studieren. "Durch Kriege und Bürgerkriege waren wir lange Zeit abgeschnitten von der Welt", sagt Sayer Niamatullah. Das ist für ihn der Grund dafür, warum noch immer so viel schief läuft in seinem Land. Warum er immer noch Drohbriefe von Fundamentalisten bekommt, die ihn zwingen wollen, zurück in sein Heimatdorf im Süden Afghanistans zu ziehen, um dort nach ihren traditionellen Bräuchen zu leben. Warum das Geld der Geberländer nicht richtig verteilt wird. Warum in den Behörden immer noch Korruption vorherrscht. Auf dem Korruptionsbarometer der Organisation Transparency International rangiert Afghanistan ganz hinten auf Platz 176 von 180 Staaten.

Bürgerkrieg und Steinzeitislamismus

"Um unser Land in eine bessere Zukunft zu führen, müssen wir sehr viel nachholen", sagt Niamatullah. In dem dreijährigen Programm, das mit einem Master abschließt, geht es zum Beispiel darum, wie Konflikte gewaltfrei gelöst werden können, wie öffentliches Geld sinnvoll verwaltet wird, und wie man all das kontrolliert.

"Die Verwaltung in Afghanistan ist völlig unterentwickelt", sagt Kupfer. Auch das Hochschulsystem sei nach fünf Jahren Steinzeitislamismus und zehn Jahren Bürgerkrieg noch immer schlecht. "Die Absolventen sind oft nicht mal auf dem Niveau eines deutschen Studenten nach dem ersten Semester." In Erfurt sollen die 15 Afghanen aufholen.

Die Sorge, dass sie nach ihrem Abschluss in Europa bleiben könnten, hat Kupfer nicht. "Erfahrungen aus unseren Programmen mit afghanischen Dozenten haben gezeigt, dass fast 100 Prozent bereitwillig zurückgehen." Für Sayer Niamatullah und die anderen steht die Rückkehr außer Frage. "Natürlich wollen wir in unserer Heimat leben." Er blickt ernst. Die internationalen Helfer würden in seinem Land dringend gebraucht. "Aber wenn ich weiß, wie es funktioniert, kann ich mehr tun", ist er überzeugt. "Die internationalen Helfer sind wichtig", ergänzt Mohammad Fawad Anwarzai. "Aber irgendwann gehen sie in ihre Länder zurück. Ich bin derjenige, der da bleibt."

Silke Katenkamp, dpa

Quelle: ntv.de

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