100 Tage im Amt Cem Özdemir im Interview
21.02.2009, 11:47 UhrGrünen-Parteichef Cem Özdemir ist am 22. Februar seit 100 Tagen im Amt. Der 43-Jährige zieht eine erste Bilanz und kündigt einen Wahlkampf um einen neuen Gesellschaftsvertrag an. Parteichef gilt bei den Grünen als Stress-Job.
Sind Sie von den Aufgaben überrascht worden?
Cem Özdemir: Dass die Erwartungen hoch sind, war klar. Wie viele Rollen von mir erwartet werden, hätte ich aber nicht gedacht.
Welche Rollen sind das?
Zunächst sehen alle in mir den Neuen. Für die Migranten, beispielsweise in meinem Kreuzberger Kiez, für viele junge Grüne und die Beobachter aus dem Ausland ist es die Rolle des Repräsentanten. In der Partei ist es vor allem die Rolle des Arbeiters in den Gremien und des Staffelläufers, der den Stab von Reinhard Bütikofer übernommen hat. Gegenüber den Spitzenkandidaten Renate Künast und Jürgen Trittin ist es vor allem die Rolle des Unterstützers. Viele projizieren die Rolle des Erneuerers in mich hinein. Und nicht zuletzt bin ich auch weiter in der Rolle des Schwaben.
Wie fällt Ihre erste Bilanz aus?
Gut. In den Bereichen Bildung und durchlässige Gesellschaft habe ich dazu beigetragen, das Profil der Partei zu erweitern. Hier legen wir, verbunden mit meiner Arbeit, nun deutlicher einen Schwerpunkt, die Blockaden in dieser Gesellschaft aufzubrechen. Im Europaparlament war ich ja auf Außenpolitik spezialisiert und davor im Bundestag auf Innenpolitik. In den letzten 100 Tagen war ich auf zahlreichen Parteiveranstaltungen im ganzen Land. Mein Eindruck ist, dass der Funke in beide Richtungen überspringt. In der Außenwirkung war in den ersten zwei Wochen das Interesse der ausländischen Presse unglaublich, von der "New York Times", über den "Economist" und "El Pas" bis zur türkischen, griechischen und armenischen Presse.
In Deutschland stehen aber die Spitzenkandidaten Renate Künast und Jürgen Trittin vorn. Wie groß ist die Konkurrenz?
Da gibt es keine Konkurrenz. Die Rolle des Bundesvorstandes ist es, die Spitzenkandidaten zu unterstützen, aber auch selbst nach außen zu gehen. Da ergänzen wir uns gut, und jeder hat mittlerweile seine Rolle gefunden.
Aber die Grünen kommen wenig vor, während die FDP die SPD als zweitstärkste Partei ablösen will. Was läuft schief?
Mir ist da nicht Angst und Bange, dass wir Grünen in der Wahlauseinandersetzung nicht entsprechend vorkommen werden. Die Stärke der FDP speist sich doch aus der Profillosigkeit der Union. Wir werden daran erinnern, dass Union und FDP gemeinsam schon drei Mal gescheitert sind. Und wir werden dafür sorgen, dass Schwarz-Gelb bei der Bundestagswahl auch ein viertes Mal scheitert. Zum Beispiel indem wir deutlich machen, was die von der FDP geforderten Steuersenkungen bedeuten - nämlich dass sich viele Kinder in der Schule ihr Mittagessen nicht leisten können oder dass die zweite Kindergartenstelle wegfällt.
Aber in der Rezession zählt vor allem Wirtschaftskompetenz.
Wirtschaftskompetenz ist nicht bei denen zu finden, die den Karren in den Dreck gezogen haben mit ihren Rezepten, sondern eher bei uns, die wir auf ökologische Modernisierung setzen. Die Rezepte, die uns aus der Krise herausführen, sind nicht die, die uns hineingeführt haben. Die entscheidende Herausforderung ist, in der Krise in die Zukunftsmärkte zu investieren. Wie kriegen wir eine Gesellschaft hin, in welcher der Unterschied zwischen Arm und Reich kleiner wird und in der die Abhängigkeit von den Ölscheichs dieser Welt allmählich verschwindet?
Welche Konzepte sollen im Wahlkampf in den Fokus rücken?
Wir wollen einen neuen Gesellschaftsvertrag als spannendes Angebot an die Wähler. Der alte Gesellschaftsvertrag funktioniert nicht mehr, der besagt, dass der wirtschaftliche Erfolg so viel Geld abwirft, dass davon letztendlich alle profitieren. Doch hat dieses Modell versagt, sowohl bei der Bewahrung der Schöpfung als auch bei der Schaffung gesellschaftlicher Durchlässigkeit. Wir buchstabieren den neuen Gesellschaftsvertrag dagegen entlang des Dreiklangs von Klima, Gerechtigkeit und Freiheit.
Quelle: ntv.de, Interview: Basil Wegener, dpa