Dossier

Unglück von Tschernobyl "DDR stellte alles harmlos dar"

Zum Start der Friedensfahrt der Radamateure Anfang Mai 1986 blühten in Kiew Kastanien und Flieder. Radrennfahrer Olaf Ludwig erinnert sich an ein anderes Bild. "In der Stadt wurden die Radkästen der Lkw mit Geigerzählern kontrolliert." Am 26. April 1986, keine zwei Wochen vor Beginn der populärsten Radrundfahrt im Ostblock, war der Reaktor des Kernkraftwerks Tschernobyl explodiert. Das Etappenrennen durch Polen, die Tschechoslowakei und die DDR startete trotzdem in der rund 100 Kilometer südlich vom Unglücksort gelegenen ukrainischen Hauptstadt.

"Wenn es nach meiner Frau gegangen wäre, wäre ich nicht gefahren", erzählt der aus Gera stammende Ludwig, Olympiasieger von 1988 und heute Chef des T-Mobile-Profiradteams. Ludwig war damals 26 Jahre alt. "Echt blauäugig" sei er die Sache angegangen, ohne Gedanken an eventuelle Gesundheitsgefahren. "Ich wollte fahren, die Friedensfahrt war sportlich einfach zu wichtig." Was an den von offizieller Seite gegebenen Informationen tatsächlich dran war, hätten die Sportler nicht durchschauen können. "Die DDR-Seite stellte alles als harmlos dar und was im Westfernsehen dazu lief, kam mir andererseits übertrieben vor."

Die Informationen der DDR-Medien über das Reaktorunglück waren dürftig. Regionalblätter wie die Erfurter SED-Zeitung "Das Volk" druckten erst drei Tage nach der Katastrophe gut versteckt eine Zehn-Zeilen-Meldung der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS ab, in der lediglich von einer "Havarie" die Rede war, nicht aber von Toten und Verletzten. Derweil verfolgten die DDR-Bürger gebannt Westfernsehen und -rundfunk, wo Begriffe wie Becquerel und Millirem fielen und die Frage diskutiert wurde, ob man Gemüse und Pilze noch gefahrlos verzehren kann.

Gegen die Sorgen der eigenen Bürger erhoben die DDR-Medien ausgerechnet das Bundesinnenministerium zum Kronzeugen. "Jodtabletten haben keinen Nutzeffekt", schrieb die Erfurter Zeitung. "Bonner Experten" sähen keine Gesundheitsgefährdung. Zeitungsfotos zeigten fleißige DDR-Bäuerinnen beim Salatpflanzen. "Doch Salat oder Gurken wollte erstmal keiner", erinnert sich Wolfgang Knauth, der damals in Kromsdorf bei Weimar eine Landwirtschaftsgenossenschaft leitete. Der Betrieb mit mehr als 500 Hektar Gemüse- und Erdbeerfeldern erkundigte sich bei Wetterexperten, ob mit radioaktivem Regen gerechnet werden müsse. "Man hat uns versichert, dass unser Gebiet nicht befallen ist", erinnert sich Knauth.

Der Bauingenieur und Hochschuldozent Hartmut Köppler aus Weimar flog Anfang Mai 1986 dienstlich nach Kiew. "In vollem Bewusstsein darüber, was passiert ist", sagt der heute 67-Jährige. In der sowjetischen Parteizeitung "Prawda" hatte er über die Evakuierung von Pripjat, eines nahe Tschernobyl gelegenen Ortes, gelesen. In Kiew half Köppler einem ukrainischen Kollegen, dessen schwangere Tochter ans Schwarze Meer in Sicherheit zu bringen. Die Bilder von damals hat er bis heute nicht vergessen: "Auf den Bahnhöfen drängten sich die Leute, die wollten einfach nur weg." Nach der Wende gründete Köppler in Weimar einen der ersten Tschernobyl-Hilfsvereine Ostdeutschlands, der seitdem 130 Kindergruppen aus der Reaktorregion zur Erholung holte.

Die gesundheitlichen Folgen des Unglücks von Tschernobyl auf früherem DDR-Gebiet sind bis heute unklar. Das Gemeinsame Krebsregister (GKR) der neuen Bundesländer in Berlin stellte keinen auffälligen Anstieg von Krebsneuerkrankungen seit dem Unglück fest. Allerdings sei die Erfassungsrate zwischen der Wiedervereinigung und Mitte der 1990er Jahre wegen der zunächst unklaren Gesetzeslage stark zurückgegangen, sagt Roland Stabenow, stellvertretender Leiter der Registerstelle. Bei "strahlensensiblen" Krebsarten wie Leukämie oder Schilddrüsenkrebs handele es sich zudem um eher seltene Erkrankungen, für die der Nachweis einer signifikanten Erhöhung schon wegen der geringen Fallzahlen schwierig sei. Das GKR hat seit 1953 mehr als drei Millionen Erkrankungsfälle dokumentiert.

Von Katrin Zeiß, dpa

Quelle: ntv.de

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