Moonshadow in Brüssel Der Politiker als "Schlafkamel"
22.06.2007, 13:07 UhrPolitiker aller Länder scheinen eine fast innige Beziehung zur Nacht zu haben. Ob in der Koalition daheim in Berlin oder erst recht in den EU-Hallen in Brüssel - es muss wenigstens der Mond aufgegangen sein, ehe sich die Matadore an den Verhandlungstischen zu einer Entscheidung durchringen. Auch auf dem laufenden EU-Gipfel in Brüssel wurde eine Entscheidung zur zukünftigen Vertragsgrundlage frühestens in der Nacht zum Samstag erwartet - weit nach Mitternacht. Wie steht man das durch?
Die Politiker sind durchaus leidensfähig, gerade wenn sie auf EU-Ebene antreten. Auch permanenter Schlafentzug macht ihnen - wenigstens für eine Zeit lang - nur wenig aus. Bundeskanzlerin Angela Merkel verfügt über bemerkenswerte Fähigkeiten, tagelang ohne die ausreichenden Mützen voll Schlaf auszukommen. Mit einem Kamel hat sie sich in dieser in dieser Hinsicht öfter im kleinen Kreis verglichen. Wie das Höckertier das Wasser, so könne sie den Schlaf lange Zeit speichern. Irgendwann müsse aber auch sie ihren Schlafakku wieder aufladen.
Andere gehen andere Wege. Der eine versucht es mit ausreichend Koffein. Der andere trinkt nur noch Mineralwasser. Ein dritter achtet vor allem darauf, zwischendurch wie ein Radfahrer beim 200-Kilometer-Rennen einen Happen zu sich zu nehmen, um den tückischen Hungerast zu vermeiden. Mitunter schlägt sich diese Taktik dann sichtbar im Leibesumfang nieder. Verbürgt ist, dass in den Nebenräumen keine Heerscharen von Nackenmasseuren warten, um zwischendurch die Beteiligten aufzumöbeln.
Alkohol wird bei solch nächtlichen Gelegenheiten durchaus auch gereicht. Bier und Wein, ob rot oder weiß - das wird auch in den Koalitionsrunden im Kanzleramt stets angeboten. Allerdings legen sich die Politiker Zurückhaltung auf. "Man weiß ja nie, wie lange es dauert", sagte kürzlich ein Teilnehmer der Runden.
Ob Marathonsitzungen bis zum Morgengrauen für gute Ergebnisse förderlich sind, da ist sich die Wissenschaft nicht so recht einig. "Durch langes Wachbleiben sinken Konzentrationsfähigkeit und Urteilskraft deutlich, das belegen zahlreiche Experimente", sagt Schlafforscher Jürgen Zulley von der Uni Regensburg. Schlafmangel rufe das Immunsystem auf den Plan. Es produziere vermehrt Botenstoffe, die müde machen.
Aber - gilt das auch für die Spezies Politiker? Der Verhandlungsdruck erzeugt jedenfalls nach Einschätzung einer langjährigen Politik-Beraterin auch Aufmerksamkeit. Wenn es hart auf hart geht, durchströme Adrenalin die Politiker-Adern. Und das hält wach.
Auch der politische Psychologe Klaus Neumann aus München sieht Nachtsitzungen nicht so negativ. Er misst ihnen gar konsensstiftende Kraft zu: "Durch den physiologischen Ausnahmezustand kommt man in eine Art Trance. Das Zeitraster verschiebt sich, es ist ein bisschen wie in einer anderen Welt."
Vielleicht ist das der Grund für ein Phänomen, das nach Nachsitzungen oft zu beobachten ist: Sie sind ein ums andere Mal dem Erinnerungsvermögen abträglich. Was um 3.00 oder 4.00 Uhr morgens beschlossen worden ist, darüber gehen schon um 10.00 Uhr die Meinungen der Beteiligten regelmäßig weit auseinander.
Von Ulrich Scharlack, dpa
Quelle: ntv.de