Verfassungskrise Die EU blickt auf Irland
25.09.2008, 09:51 UhrSchulterzucken, Ratlosigkeit und Drohungen. Die Europäische Union sucht nach der irischen Ablehnung des so dringend benötigten Reformvertrags von Lissabon nach einem Ausweg aus ihrer tiefen Krise. Am 15. Oktober muss Irlands Regierungschef Brian Cowen beim EU-Gipfeltreffen in Brüssel Farbe bekennen und sagen, ob er ein baldiges zweites Referendum für möglich hält. Dass eine Ratifizierung des Reformvertrags noch im Frühjahr 2009 durch alle 27 EU-Mitglieder möglich sein soll, gilt allerdings zunehmend als fraglich.
"In Brüssel wabern die Spekulationen nur so durch den Raum", findet Deirdre Farrel, Sprecherin der irischen EU-Vertretung in Brüssel. Ein neuer Vertrag? Nochmal abstimmen? Extrawürste für Irland? "Alle Optionen sind auf dem Tisch." Das Problem ist jedoch: Die grüne Insel schlittert gerade in die erste Rezession seit 25 Jahren. Die Arbeitslosigkeit ist so hoch wie seit zehn Jahren nicht mehr, das Haushaltsdefizit droht die Maastrichter Grenze von drei Prozent vom Bruttoinlandsprodukt zu überschreiten.
Wenig Bewegung
"Wir brauchen noch Zeit", sagt Farrell. Die Angst vor zu viel EU-Einfluss in Irland sei groß. Mit den Gegnern des Vertrags wie der Sinn-Fein-Partei, Bauern und Gewerkschaften werde fieberhaft nach Kompromissen gesucht. Doch es gibt offensichtlich wenig Bewegung. Niall Madigan vom Irischen Bauernverband sagt, dass die Landwirte ein Veto der Regierung gegen ein neues Handelsabkommen der Welthandelsorganisation (WTO) fordern. Die Bauern fürchten um die Rindfleisch- und Milchproduktion wegen der geplanten globalen Öffnung des Agrarsektors. Madigan: "Erst wenn es das Veto gibt, könnten wir ein "Yes" bei einem Referendum empfehlen."
Während die Iren auf ihre Schwierigkeiten hinweisen, steigt im Europaparlament die Nervosität. Der SPD-Politiker und Vorsitzende des Verfassungsausschusses, Jo Leinen, fordert, vor den Europawahlen im Juni 2009 müsse der neue Vertrag unter Dach und Fach sein. Sonst steige die EU-Skepsis weiter, und die Ratifizierung werde immer schwieriger. Seine Devise: "Schwarzmalerei führt nur in die Sackgasse." Einen konkreten Lösungsvorschlag hat der erfahrene Politiker aus dem Saarland nicht. Er wendet sich indirekt gegen den luxemburgischen Regierungschef Jean-Claude Juncker, der unlängst konstatierte: "Ich denke nicht, dass der Vertrag im Juni 2009 etabliert sein wird."
"Opt-Outs" für Irland?
Bereits 2002 hatte Irland den Nizza-Vertrag der EU erst im zweiten Anlauf angenommen. Um die Iren von einem zweiten Referendum zu überzeugen, könnten Extraklauseln außerhalb des Vertragswerks vereinbart werden. Irische Offizielle waren jüngst in Dänemark, um sich über die dortigen "Opt-Outs" - die Ausklammerung von Vertragsteilen - zu informieren. Dänemark hatte die "Opt-Outs" nach der ersten Ablehnung des Maastricht-Vertrags zugebilligt bekommen.
Die Iren dringen auf ihre Neutralität und wollen keine EU-Verteidigungspolitik: Rund ein Drittel der Wähler glaubt, dass der Vertrag den Weg zu einer EU-Armee ebne - zu der auch irische Bürger herangezogen würden. "Viele Iren fürchten auch den Verlust der Hoheit über die Unternehmenssteuern - die niedrigen Sätze waren bisher ein großer Vorteil für Irland", sagt Sprecherin Farrell.
Direkt gegenüber dem Sitz der EU-Kommission befindet sich der irische Pub Kitty O'Shea's. An einem Tisch sitzt Finbarr O'Gallaghan, Student aus Dublin. Er glaubt, alles sei so verfahren, dass nun nur noch ein Machtwort von ganz oben helfen könne. "Damals, vor dem zweiten Referendum 2002, hat Papst Johannes Paul II. an uns appelliert, mit Ja zu stimmen", erzählt er. "Und da wir sehr katholisch sind, hat es geklappt."
Quelle: ntv.de, Georg Ismar, dpa