Dossier

Ex-Botschafter Wieck bei n-tv.de "Dieser Anschlag ist ein Novum"

Der Ehrenvorsitzende der Deutsch-Indischen Gesellschaft, Hans-Georg Wieck, sieht in den Anschlägen von Bombay eine neue Qualität. Diesmal gehe es gegen das "System Indien", gegen die offene Gesellschaft, sagt der ehemalige Botschafter in Indien und einstige BND-Chef gegenüber n-tv.de. Wieck rechnet mit einer Reihe weiterer Unruhen im Land. Schließlich sei die Gewalt im muslimischen Namen geschehen und werde schon allein dadurch eine Reaktion auslösen.

n-tv.de: Die jüngsten Terroranschläge in Bombay sind nur ein Beispiel: Immer wieder ist es in diesem Jahr in Indien zu Anschlägen muslimischer Gruppen gekommen. Brechen die alten Konflikte zwischen Muslims und Hindus wieder neu aus?

Hans-Georg Wieck: Der Konflikt war nie beigelegt, er schwingt immer mit in Indien zwischen der hinduistischen Mehrheit und der muslimischen Minderheit. Aber im diesem Fall sehe ich doch ein Novum, eine neue Form von Gewalttätigkeit. Dieser Angriff richtet sich gegen das System Indien, gegen die offene Gesellschaft Indiens, gegen den säkularen Staat und gegen eine Mittelschicht, die einen modernen Staat schafft. Dieses System manifestiert sich in ganz ungewöhnlicher Weise in Mumbai - die Stadt ist nicht nur Finanz- und Handelsmetropole, nicht nur die wichtigste Stelle des Handels mit dem Ausland und dem Inland, sondern auch die Kulturmetropole mit dem modernen indischen Film. Diese Filmindustrie greift tief in die gesellschaftlichen Strukturen des Landes ein und vermittelt auch ins Ausland ein Bild von Indien als einer Gesellschaft, die zwar von Konflikten, aber doch ebenfalls von Toleranz und Modernität geprägt ist.

Neu bei diesem Angriff ist auch, dass er in einer ganz anderen Weise als in der Vergangenheit ausgeführt wurde, nämlich nicht mit Selbstmordattentätern und Bomben, sondern wie eine militärische Operation mit bewaffneten Kämpfern.

Ist der Angriff in gewisser Weise vergleichbar mit dem 11. September?

Ich denke schon. Im Ansatz ist es ein Angriff gegen das moderne Indien, gegen die moderne Gesellschaft, die sich in einem Parallelschwung mit der westlichen Gesellschaft befindet. Indien ist immer anders als die westliche Gesellschaft, aber da sehe ich eine Parallele. Daraus schließe ich nicht irgendeine operative Kooperation mit Al-Kaida oder vergleichbaren Gruppen, aber es ist eine fundamentale Systemkritik und nicht eine Auseinandersetzung mit einer anderen religiösen Gruppe.

Das heißt, es geht nicht mehr um den alten Konflikt zwischen Muslims und Hindus?

Es gibt da ein Element, das den Anschein erweckt, dass es sich um den alten Konflikt handelt. Das ist die Forderung nach Entlassung aller muslimischen Insassen aus indischen Gefängnissen. Und doch ist dieser Angriff anders als wir es bisher in den typischen Auseinandersetzungen erlebt haben, wie etwa 1992 bei der Zerstörung der Babri-Moschee und den darauffolgenden Racheakten. Erst die Angriffe auf die Vorortzüge von Mumbai am 11. Juli 2006 richteten sich schon gegen das System Indien, saßen doch in den Vorortzügen die Beschäftigten der Banken, Versicherungen und Handelsgeschäfte.

Wie groß ist die Terrorismusgefahr in Indien?

Das sind normalerweise spontane Ausbücke von Gewalt, bei denen sich Menschen auf dem Markt streiten, andere dazu kommen, dann einen Hindu oder einen Muslim sehen und dann gibt es Blut. Das sind lokale Streitfälle. Die organisierte Struktur ist allenfalls stark bei den im Nordosten operierenden, exkommunistischen und neokommunistischen Naxaliten. Aber das hat nichts mit Muslimen und Hindus zu tun, sondern mit den Nationalitäten, den Stammeszugehörigkeiten. Die neuen Angriffe sind wirklich ein Novum.

Erwarten Sie nun eine verstärkte Bedrohungssituation im Land?

Ja. Man muss mit einer Reihe von Unruhen im Lande rechnen und dass sich der kommunale Religionskampf wieder ausbreitet. Schließlich geschah die jüngste Gewaltausübung in Mumbai ja in muslimischem Namen und wird Reaktionen auslösen. Aber ich habe da das Gefühl, dass das eingedämmt werden kann. Schließlich ist Indien solche Art von kommunalen religiösen Konflikten gewohnt.

Daneben sind aber noch soziale Unruhen zu erwarten, denn das System Indien hat ja eine große Last mit einem Viertel der Bevölkerung, der noch in Armut lebt. Die sozialen Spannungen werden sich weiter verdichten, wie es sich ja auch im Nordosten bei den Konflikten vor allem um eine soziale und nicht so sehr eine religiöse Frage handelt.

Rund 150 Millionen Muslime leben in Indien. Wie ist das Miteinander im Alltag?

Zwölf Prozent der 1,2 Milliarden Inder sind Muslime, 80 Prozent sind Hindus. Wenn man Religionskrieg will, ist da im Prinzip ein unendliches Potenzial. Aber das ist nicht der Fall. In der Regel herrscht Religionsfrieden, da gibt es gar keinen Zweifel. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung sagt bei Befragungen, dass sie sich als Inder fühlen und diesen Staat bejahen. Und das liegt an der demokratischen Ordnung: Jeder Inder ist Staatsbürger, egal welchen Glaubens. Das ist das Prinzip des säkularen Staates mit demokratischen Wahlen. Es kann sich alles ausdrücken, man kann abgewählt werden, man kann neu wählen. Es gibt genügend Entspannungsmöglichkeiten für Konflikte.

Inwieweit wirkt das Nachbarland Pakistan destabilisierend bei dem Konflikt zwischen Muslimen und Hindus?

Die Geschichte Pakistans und Indiens ist von Kriegen und Spannungen bestimmt. Im Augenblick haben aber beide Seiten ein Interesse daran zu kooperieren und auch den Konflikt um Kaschmir nicht eskalieren zu lassen. Pakistan befindet sich zurzeit in einer Existenzkrise - wegen des Afghanistan-Konflikts, der Ermordung von Oppositionsführerin Benazir Bhutto, der Tendenz zu Militärregimen, der schwierigen Lage des Landes in der gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzkrise, der komplizierten Beziehungen zu den westlichen Ländern, die in Afghanistan friedensstabilisierende Maßnahmen durchführen. Indien hat ein Interesse an der Stabilität Pakistans.

Welche Ansätze sehen Sie für das Ausland, um die Konflikte zu verringern? Die Deutsch-Indische Gesellschaft unterstützt ja Projekte in Indien, um die Zusammenarbeit zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Sprachen und Religionen zu fördern.

Das ist ein Daueransatz, den man nicht preisgeben darf, auch wenn es Rückschläge gibt. Rückschläge müssen einen vielmehr darin bekräftigen, immer wieder das Gespräch zu suchen, Schulpartnerschaften herzustellen, sozial ausgegrenzte Gruppen in Bildung und Ausbildung zu fördern, und das geschieht über diese zivilgesellschaftlichen Gruppen. Das wird auch von der indischen Regierung begrüßt.

Sehen Sie noch andere Ansätze für die Lösung des Dauerkonfliktes?

Die indische Regierung bemüht sich, Mittel in die verarmten Gebiete zu bringen. Dort gibt es heute Selbstverwaltung - also nicht-vertikale Strukturen - mit Quoten für Frauen, für die Ausgegrenzten, für die Ureinwohner, die dann an der Verwaltung der Mittel beteiligt sind. Da sehe ich einen Ansatz zur Selbsthilfe, die ja auch von internationalen zivilgesellschaftlichen Organisationen gefördert wird. Das Zweite ist, dass die Wirtschaft in die ländlichen Gebiete hinein Mehrwert produzierende Dienstleistungen oder Handwerk auslagern muss, so dass auch die Menschen auf dem Lande Lebensmöglichkeiten bekommen. Andernfalls sind sie zur Abwanderung in die Städte als Arme, als Bettler gezwungen. Da ist enormer Handlungsbedarf. Aber das ist ein gewaltiges Programm, das sich nicht in zwei, drei Jahren umsetzen lässt.

Quelle: ntv.de, Mit Hans-Georg Wieck sprach Gudula Hörr

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