Die archaische Türkei "Ehrenmorde" und "Blutrache"
12.12.2006, 11:49 UhrFrauen in Chefetagen sind in der Wirtschafts- und Kulturmetropole Istanbul durchaus nichts Außergewöhnliches. Zwei der höchsten Gerichte der Türkei in der Hauptstadt Ankara werden von Frauen geleitet. Und eine überwältigende Mehrheit der Türken wünscht sich eine stärkere Beteiligung des weiblichen Geschlechts am öffentlichen Leben, wie eine kürzlich vom UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) veröffentlichte Studie ergab.
Knapp 80 Prozent sprachen sich jeweils für Frauenquoten im Parlament und in Parteien aus. Denn mit der Mitsprache in der Politik hapert es im EU-Bewerberland Türkei noch mächtig, obwohl das Wahlrecht für Frauen bereits 1934 eingeführt wurde - noch vor Frankreich, Italien oder Griechenland. Doch wenn Frauen in der Türkei für Schlagzeilen sorgen, dann meist in der Rolle des Opfers.
Geopfert werden sie archaischen Bräuchen, "Töre" genannt, von Stammes- und Familienclans, die im Osten und Südosten des Landes nach den ungeschriebenen Gesetzen der "Familienehre" und der "Blutrache" über das soziale Leben bestimmen. Oft genügt schon ein Gerücht, um Frauen zum Tode zu verurteilen - wie der Fall der 20-jährigen Gülistan aus dem Dorf Sirimkesen in der Provinz Diyarbakir zeigt, für deren Mord sich demnächst acht Verwandte vor Gericht verantworten müssen.
Gülistans Mörder hatten eine Nussbaumtruhe, in die sich die junge Frau geflüchtet hatte, mit Salven aus einer Kalaschnikow durchsiebt. Die Frau, die ihrem Mann keinen Sohn gebar und deshalb schlecht angesehen wurde, war mit ihrer Tochter zum Arbeiten nach Istanbul gegangen und wegen Gerüchten, sie betrüge ihren Mann, ins Dorf zurückbeordert worden. Die Staatsanwaltschaft hat für alle Angeklagten lebenslange Haftstrafen beantragt.
Gleich mehrere Schreckensmeldungen aus der tiefen Provinz, die vielen Zeitungslesern in der urban geprägten Westtürkei ebenso Entsetzen einflössen wie den westlichen Gesellschaften in Europa, kamen dieser Tage in kurzer Abfolge aus der Provinz Van an der Grenze zum Iran. "Vergewaltigungskomitee auf dem Dorfplatz", schrieb eine Zeitung zu der Art und Weise wie dort die Vergewaltigung einer verheirateten Frau von den Dorfältesten "geahndet" wurde - mit einer weiteren Vergewaltigung. Die erst 16 Jahre alte Tochter des Vergewaltigers wurde dem Mann, dessen Frau er vergewaltigt hatte, zugesprochen - per Zwangsheirat, in der Türkei "Berdel" genannt. Aus Sicht der Akteure "ausgleichende Gerechtigkeit", um eine Blutrache zwischen den Familien, die sich häufig über Generationen hinzieht, zu vermeiden.
Armut, Landflucht und Binnenwanderung haben dazu beigetragen, dass so genannte Ehrenmorde längst die großen Städte des Landes wie Istanbul, Ankara oder Izmir erreicht haben - und darüber hinaus deutsche Städte. Zum Symbol für all diejenigen, die in der Türkei zum Kampf gegen die von "mittelalterlichem Denken" geprägten Ehrenmorde angetreten sind, ist die 22-jährige Güldünya geworden, die wegen eines unehelichen Kindes ihr Heimatdorf im Südosten verlassen musste, in Istanbul von zwei hinterher gereisten Brüdern auf der Straße angeschossen und, da sie den ersten Anschlag überlebte, im Krankenhaus niedergestreckt wurde.
Gerade hat das oberste Gericht der Türkei einen neuen Prozess angeordnet, weil es die erstinstanzlichen Strafen - lebenslänglich für den volljährigen, knapp zwölf Jahre Haft für den minderjährigen Bruder - als nicht ausreichend bewertet hat. Beide müssten zusätzlich für den ersten Mordversuch verurteilt werden, beschied das Gericht. Mit der Reform des türkischen Strafgesetzbuches vor eineinhalb Jahren sind die früher üblichen Strafnachlässe für Verbrechen, bei denen sich die Täter auf die Wiederherstellung der Familienehre berufen, abgeschafft worden.
"Die öffentliche Aufmerksamkeit zum Thema Frauenrechte in der Türkei ist gewachsen", stellte die EU-Kommission in ihrem Bericht im November fest. "Während der gesetzliche Rahmen (zur Verfolgung von Ehrenmorden) alles in allem zufrieden stellend ist, bleibt die Anwendung unzureichend ... die volle Achtung der Frauenrechte ein kritisches Problem, vor allem in den ärmsten Gegenden des Landes."
(Ingo Bierschwale, dpa)
Quelle: ntv.de