Interview zum Fall Mitja "Er ist sehr gefährlich"
27.02.2007, 15:43 UhrProfessor Adolf Gallwitz ist Kriminalpsychologe an der Polizei-Hochschule in Villingen-Schwenningen. Im n-tv.de-Interview spricht er über den mutmaßlichen Mörder des kleinen Mitja und die Möglichkeiten von Eltern, ihr Kind besser zu schützen.
n-tv.de: Der Mord an dem neunjährigen Mitja schockiert das Land. Der Junge ist dem mutmaßlichen Täter offenbar völlig arglos gefolgt. Wie schafft ein Täter das?
Prof. Adolf Gallwitz: Das ist seine Fähigkeit, sich mit dieser Altersgruppe zu beschäftigen. Pädosexuelle Täter beschäftigen sich mit der kindlichen Psyche und können sich gut auf sie einstellen. Dagegen haben viele Eltern keine Chance, vor allem, wenn in einer kinderreichen Familie die Aufmerksamkeit aufgeteilt werden muss. Kinder sind völlig überrascht, wenn da jemand ist, der sich ausschließlich für sie Zeit nimmt.
Wie schätzen Sie im aktuellen Fall den mutmaßlichen Täter ein?
Ich schätze ihn als sehr gefährlich ein, weil er in seinem Drang und seiner Gier, ein Kind zum Opfer zu machen, ein hohes Entdeckungsrisiko in Kauf genommen hat. Man kann als Bürger in Leipzig ja wissen, dass die Straßenbahnen mit Videokameras überwacht werden. Und wer dann die Leiche in seinem persönlichen Bereich zurücklässt, der ist entweder unter unheimlichem Druck, oder aber, es ist irgendetwas schief gelaufen.
Im Fall Mitja ist der Täter offenbar ein Fremder für das Kind gewesen. Aber ist das das Hauptproblem?
Fremde sind nicht das Problem. Wir haben die meisten Übergriffe und Verletzungen in Beziehungen. Aber der fremde Täter ist eher der gefährliche Täter, wo es bei Verdeckungsstraftaten zu Tötungsdelikten kommt – vor allem, wenn es sich um einen Wiederholungstäter handelt.
Was können Eltern konkret tun, um ihr Kind davon abzuhalten, sich auf Fremde einzulassen?
Das sind die uralten Ratschläge. Das Kind unternimmt weder mit einem Fremden noch mit einem Bekannten etwas, ohne dass Rücksprache mit den Eltern stattgefunden hat – das ist der eine Grundsatz. Der andere geht nicht ganz angstfrei. Ich muss den kindlich-naiven Optimismus ersetzen durch eine realistische Denkweise. Ich muss Kriminalität und Sexualkriminalität besprechen, und dass man es den Leuten nicht ansehen kann, welche Absichten sie haben.
Was kann oder was muss die Schule in der Sache leisten?
Wir brauchen in den Schulen bestimmte Bausteine, in denen nicht nur Verhütung, sondern auch Sexualkriminalität besprochen wird. Das bedeutet aber auch, dass wir die Lehrer fortbilden müssen.
In welchem Alter sind Kinder besonders gefährdet?
Die größte Gefahr, einem Sexualstraftäter zum Opfer zu fallen, ist im Bereich der mittleren Kindheit, wenn die Kinder immer größere Freiräume haben, immer länger und weiter ohne Aufsicht der Eltern unterwegs sind.
Aber nun ist die Abgrenzung vom Elternhaus eine natürliche Sache. Wie kann man den Sicherheitsaspekt und die zunehmende Selbstständigkeit miteinander verbinden?
In dem ich die Kinder auf das Leben vorbereite, ihnen aber nicht den Explorationstrieb nehme. In bestimmten Lebensabschnitten ist es richtig, dass Kinder zu zweit oder zu dritt die Welt erkunden – und nicht alleine. Es ist natürlich nicht notwendig, die Kinder zu Abhängigen zu machen, aber Freiräume sollten altersentsprechend vergrößert werden. Und zwischendurch sollte das Kind darauf überprüft werden, ob es schon mein Vertrauen genießen kann oder ob hier noch Gespräche, Spiele oder Übungen notwendig sind.
Gibt es einen Unterschied in der Gefährdung zwischen Jungen und Mädchen?
In der Altersgruppe von Mitja sicher nicht. Das ändert sich aber im Bereich der Pubertät. Zu Beginn des jugendlichen Alters werden Mädchen dann öfter Opfer von Sexualdelikten und jugendliche Jungen eher Opfer von anderen Gewalttaten.
Mit Schrecken konnten wir Eltern beobachten, die frei von der Leber vor der Fernsehkamera Details aus dem Leben ihrer Kinder preisgeben. Wie sehr hinkt die Aufklärung hinter der tatsächlichen Gefahr hinterher?
Sie hängt ein Stück hinterher. Wenn ich mir manche Homepages von Schulen angucke, auf denen man den Stundenplan und die Namen von Kindern einsehen kann, dann ist das geradezu fahrlässig. Manche Eltern überschätzen ihre Kinder auch, weil es einen Selbstverteidigungs- oder Behauptungskurs mitgemacht hat. Wichtig ist immer noch das Vor-Leben. Wir haben sehr viele Kinder, die bekommen Übergriffe vorgelebt. Und das ist eine sehr ungünstige Voraussetzung, selber geschützt zu sein.
In ihrer ja sehr populären Kinderschutzfibel sind Sie genau auf diesen Aspekt eingegangen, in dem Sie sagen, dass die Kommunikation zwischen Kind und Eltern besonders wichtig ist. Sehen Sie aber heutzutage nicht genau da die größten Probleme?
Wir haben in der Tat in der Einstellung zur Sexualität das Problem, dass teilweise die Urgroßmutter lockerer darüber reden konnte als die Eltern. Im 21. Jahrhundert zu leben, heißt nicht automatisch, dass man offener und freier über Sorgen und Sexualität reden kann. Und Jugendliche haben ein nahezu grenzenloses Bedürfnis, neue Menschen kennenzulernen. Das sehen Sie auch an diesen Videoportalen, wo sich junge Leute praktisch mit Bildern positionieren, um Kontakt zu bekommen. Das macht sie gefährdet gegenüber Leuten, die leichte Opfer suchen.
Vom Gefühl her nehmen Sexualstraftaten an Kindern zu, sicherlich auch durch die mediale Aufbereitung. Doch was sagen die Zahlen tatsächlich?
Ich kann jetzt keine genauen Zahlen nennen, aber wir haben eine derart geringe Häufigkeit an Sexualstraftaten, dass man nicht sagen kann, ob sie zu- oder abnehmen. Sie machen ein Prozent der Gesamtkriminalität im Hellfeld aus. Unter den angezeigten Straftaten, so schrecklich auch ein einzelnes Delikt ist, sind sie Gott seid Dank derartig selten, dass wir über Zu- oder Abnahme nicht sprechen können. Wir sprechen aber natürlich immer nur vom Hellfeld, von den angezeigten Taten. Wie viele Taten ein Täter begangen hat, kann letztendlich nur er selber sagen – nicht die Polizeistatistik.
(Interview: Jochen Müter)
Quelle: ntv.de