Auch in Kreuzberg Gül entzweit die Türken
03.05.2007, 17:17 UhrMorgens um elf Uhr im Berliner Bezirk Kreuzberg, dem Zentrum türkischen Lebens in Deutschland. An einer Straßenecke stehen Sibel und Ruken und zwinkern mit von Wimperntusche schweren Augenlidern.
"Solange wir selbst keine Kopftücher tragen müssen, haben wir mit Politik nichts am Hut", sagt eine der beiden türkisch-stämmigen Schülerinnen, die in dem Berliner Kiez geboren und aufgewachsen sind. Die hitzige Debatte über die Trennung von Staat und Religion, die ihr Herkunftsland in den vergangenen Tagen zunehmend in zwei Lager spaltet, ist für die Mädchen weit entfernt. "Darüber machen sich nur die Sorgen, die nicht arbeiten müssen. Der Rest hat keine Zeit", sagt auch Özcan Dedeoglu, der einen Block weiter eine Pizzeria betreibt.
Keine Zeit für eine politische Entwicklung, die in der Türkei Massendemonstrationen und möglicherweise vorgezogene Wahlen auslöst: Außenminister Abdullah Gül will sich zum Präsidenten wählen lassen. Damit wären die zwei höchsten Staatsämter von Mitgliedern der religiösen Regierungspartei AKP besetzt. Und das in einem Land, das von dem General und jetzigem Nationalhelden Kemal Atatürk gründlich säkularisiert wurde.
Das Militär pocht auf das Vermächtnis des Generals und droht einzugreifen. Das Verfassungsgericht erklärte die erste Runde der Präsidentenwahl am Dienstag für ungültig.
Das lässt nicht jeden in Kreuzberg so kalt wie Dedeoglu. Supermarktbesitzerin Birgül Aslan macht sich Sorgen, dass Türken ein größerer "Dorn im Auge" der Deutschen werden könnten. Die würden sie aus Angst vor einer zunehmenden Islamisierung in eine Schublade mit "Iran und Irak" stecken.
Taxifahrer Mehmet Yilmaz gönnt sich im Straßencaf nebenan eine Zigarettenpause - und hat die Ruhe weg. Bessere Politiker als die der AKP gebe es nicht und das Militär werde schon den Daumen auf die Extremgläubigen halten. Kein Grund zur Panik also.
Rund 116.000 türkische Staatsbürger leben in Berlin. Über ein Drittel so viele wurden allein im Jahr 2005 eingebürgert und wie viele in zweiter und dritter Generation in der Hauptstadt wohnen, kann beim Statistischen Landesamt schon keiner mehr sagen.
In Kreuzberg reihen sich Kebabstände an türkische Supermärkte, Friseursalons und Kaffeehäuser. Der Stadtteil ist so eng mit der Geschichte türkischer Einwanderer verknüpft, dass sogar das Gerücht kursiert, der Döner selbst wurde hier erfunden. Auch im Straßenbild spiegelt sich die ganze Bandbreite türkischen Lebens: In weite Tücher gehüllte Frauen ziehen ihre Einkaufswagen hinter Mädchen wie Sibel und Ruken her. Auf den Bänken am Oranienplatz sitzen unrasierte Männer in der Morgensonne, während ein junger Deutsch-Türke im Falafel-Laden um die Ecke Gemüse frittiert. Es überrascht also nicht, dass die Meinungen der Kreuzberger zu Gül und den Präsidentenwahlen weit auseinanderklaffen.
Die verschiedenen Ansichten seien ein Spiegelbild der öffentlichen Meinung in der Türkei, sagt Celal Altun, Generalsekretär der "Türkischen Gemeinde Berlin": zwar nicht ganz so polarisiert, aber dennoch tief gespalten. Ob sich eine Präsidentschaft Güls allerdings negativ auf das Verhältnis zwischen Deutschen und den uneinigen Deutsch-Türken auswirken könnte, hänge von den Medien ab. Wenn diese die europäischen Ängste vor einer Islamisierung der westlichen Gesellschaft schürten, könne das den deutschen Blickpunkt auf die türkischen Gemeinde "vehement verändern".
Viel gelassener sieht das eine schwer mit Plastiktüten bepackte Türkin, die schon vor 19 Jahren aus Istanbul nach Berlin gekommen ist: "Jeder Präsident ist gleich", beruhigt sie augenzwinkernd. "Die stecken alle das Geld in die eigene Tasche."
Heike Sonnberger, Reuters
Quelle: ntv.de