Kollaps oder Chance? Im Osten was Neues
19.05.2010, 11:39 Uhr
Rund 40 Prozent der Arbeitsplätze in Ostdeutschland gingen nach der Wende verloren, die Arbeitslosigkeit im Osten ist auch im 20. Jahr der deutschen Einheit mit 13 Prozent fast doppelt so hoch wie in Westdeutschland.
(Foto: dpa)
Mitten in der Krise ist die Arbeitslosigkeit auf den Tiefststand seit der Wiedervereinigung gesunken. Experten sehen den Arbeitsmarkt vor einem Umbruch - und den Osten als Vorreiter.
Jena, Dresden, Leuna oder Potsdam als Job-Dorado auch für junge "Wessis": Für Christoph Köhler ist das vorstellbar. "Wir sind im demografischen Wandel dem Westen um zehn Jahre voraus. Und daraus ergeben sich Chancen für Fachkräfte und Hochschulabsolventen", sagt der Jenaer Soziologieprofessor. Er sieht die neuen Länder, die nach der Wiedervereinigung einen "beispiellosen Verlust an Arbeitsplätzen erlitten", in einer Vorreiterrolle beim Wandel, der sich auf dem deutschen Arbeitsmarkt künftig vollziehen wird: "Im Guten wie im Bösen."
20 Jahre nach der Wiedervereinigung verabschieden sich nach und nach die geburtenstarken Jahrgänge in die Rente. Es rückt - durch den Geburtenknick in den 1990er Jahren und die West-Wanderung vor allem junger Frauen - eine zahlenmäßig kleinere Generation nach. Schon ist zwischen Rostock und Chemnitz vom drohenden Fachkräftemangel die Rede, der die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland gefährden könnte.
"Vollbeschäftigung ist möglich"
Inzwischen gibt es Rückholagenturen für Pendler und Abwanderer, Firmen übernehmen Schul-Patenschaften, Aktionsprogramme zur "Fachkräftesicherung und Qualifizierung" entstehen. Der Jenaer Wissenschaftler Michael Behr spricht vom Ende des "personalwirtschaftlichen Paradieses". Nach Einschätzung des Zentrums für Sozialforschung Halle (ZHS) wird sich der ostdeutsche Arbeitsmarkt von 2012 an grundlegend verändern. Bis 2020 werden nach den Prognosen etwa 185.000 Menschen altersbedingt aus dem Job ausscheiden. Ihnen stehen jedoch nur rund 100.000 Neuzugänge gegenüber.

Soziologieprofessorin Christiane Dienel zeigt die von ihr entwickelte Heimatschachtel. Die mit Pralinen, Freikarten fürs Theater, Burger Knäckebrot und ein online-Abonnement der Regionalzeitung gepackte Schachtel gehört zu drei Modellprojekten, mit denen Abwanderer zurückgeholt werden sollen.
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Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesarbeitsagentur hält in einer Untersuchung von 2009 daher eine Art Ost-Vollbeschäftigung für möglich. Rein rechnerisch könnte sich die Zahl der Erwerbslosen von knapp 2,3 Millionen im Jahr 2008 bis zum Jahr 2025 auf rund eine halbe Million reduzieren, heißt es in dem IAB-Bericht.
Noch ist es nicht so weit: 2009 lag die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland bei 13,0 Prozent. Das ist die niedrigste in den Zahlenreihen, die Ilona Mirtschin, Sprecherin der Bundesagentur, seit Anfang der 1990er Jahre vorlegt. Aber sie ist immer noch fast doppelt so hoch wie in Westdeutschland mit 6,9 Prozent. Der Arbeitsmarkt sei "immer noch eindeutig in Ost und West gespalten", urteilt der DGB und verweist auf die vielen Ein-Euro-Jobs, Qualifizierungsprogramme oder eine fast doppelt so hohe Jugendarbeitslosigkeit.
Vergangenheit zeigt tiefe Risse
Der Soziologe Köhler sieht zumindest eine Stabilisierung, wenn auch auf niedrigem Niveau. Nicht vergessen ist der gigantische Umbruch in den Jahren nach der Wiedervereinigung, als riesige DDR- Kombinate wie Robotron in Dresden, die Textilindustrie in der Lausitz, Zeiss in Jena oder der Maschinenbauer SKET in Magdeburg in die Knie gingen und fast über Nacht Zehntausende auf der Straße standen. Rund 40 Prozent der Arbeitsplätze gingen verloren, sagt Köhler. Quasi eine ganze Generation sei mit Milliarden an Transferleistungen vorzeitig in Rente geschickt worden, einige 100.000 in Beschäftigungsprojekte. "Sonst hätte es viel stärker gekracht."
Die Nachwehen des Bebens mit Massenarbeitslosigkeit, Jobangst und Perspektivlosigkeit sind noch heute zu spüren. Der Niedriglohnsektor sei im Osten wesentlich größer als im Westen, sagt Köhler. Das deutsche Beschäftigungsmodell der Vergangenheit zeige tiefe Risse. "Im Osten wurde ausprobiert, wie Kündigungsschutz unterlaufen, Lohnkürzungen und Leiharbeit organisiert werden."
Das ist die böse Seite der Vorreiterrolle. Deshalb lohne es sich auch im Westen, genau hinzuschauen, wie der Osten mit den Problemen umgehe. Das schlimmste Zukunftsszenario wäre hohe Arbeitslosigkeit bei gleichzeitigem Fachkräftemangel. Deshalb mahnen die Fachleute vom IAB: Niemand sollte darauf warten, "dass die Demografie das ostdeutsche Arbeitslosigkeitsproblem quasi von alleine löst".
Quelle: ntv.de, Simone Rothe, dpa