Mr. Fragezeichen gibt Rätsel auf Kein Liebesdrama
18.04.2007, 19:36 UhrDer Amokläufer von Blacksburg (Virginia) hasste seinen Namen. Der Südkoreaner Cho Seung-Hui signierte nur mit einem Fragezeichen. In Seminaren trug er eine Sonnenbrille, fotografierte mit seinem Mobiltelefon Mitstudentinnen unter dem Tisch, verfolgte junge Frauen und schockierte seine Kursteilnehmer mit makabren Gedichten und Theaterstücken voller Gewalt-, Sexual- und Todesfantasien.
Vieles deutete seit Jahren auf eine gestörte Persönlichkeit des Einzelgängers hin, dessen Gesicht nach Angaben von Mitstudenten stets leer und ausdruckslos blieb, der nie lachte, der nach langen Pausen nur einsilbig antwortete und selbst in seinem Zimmer endlos in die Leere starrte. Aber niemand in der Technischen Universität von Blacksburg setzte vor der Bluttat alle Puzzle-Stücke zusammen. Und vieles deutet darauf hin, dass die Polizei nach der ersten Schießerei einer falschen Fährte aufsaß und das Unglück so seinen Lauf nahm.
Nach dem bislang blutigsten Amoklauf in der Geschichte der USA mit 33 Toten gibt "Mr. Fragenzeichen" weiter Rätsel über sein Tatmotiv auf. Nach Angaben der Polizei hinterließ der 23-Jährige keinen Abschiedsbrief, der seinen Blutrausch erklären könnte.
Im Zuge der Ermittlungen wird auch immer unwahrscheinlicher, dass beim Todesschützen während eines Liebes- oder Eifersuchtsdramas alle Sicherungen durchgebrannt sein könnten. Jedenfalls bestand zwischen dem ersten Todesopfer, der 18 Jahre alten Emily Hilscher, und dem Südkoreaner kein offensichtlicher Zusammenhang. Hilschers Mitbewohnerin Heather Haugh sagte der "Los Angeles Times", dass ihre Freundin den Täter nicht persönlich kannte. "Ich habe ihn nie zuvor gesehen. Ich kannte seinen Namen nicht. Emily kannte ihn auch nicht, soweit ich weiß", sagt Haugh. Und auf dem Campus kann sich niemand erinnern, Cho je in Begleitung eines Mädchens gesehen zu haben.
Zwei Tage nach der Bluttat kristallisierte sich auch immer weiter heraus, dass die Polizei am Anfang einer falschen Fährte aufsaß. Haugh hatte den Beamten nach der ersten Schießerei am Montagmorgen im Wohnheim gesagt, dass der Freund ihrer getöteten Mitbewohnerin ein "Waffennarr" sei. Polizei und Universitätsleitung gingen deshalb anfangs von einem Fall "häuslicher Gewalt" aus und sahen wegen des "isolierten Vorfalls" keinen Grund, den Campus zu räumen. Erst mehr als zwei Stunden nach der ersten Schießerei informierten sie die rund 26.000 Studenten. Zu dieser Zeit war der Amokläufer mit seinen beiden Waffen auf dem Weg ins Vorlesungsgebäude.
Virginias Gouverneur Tim Kaine will von einer unabhängigen Expertenkommission nicht nur klären lassen, warum die Studenten so spät gewarnt wurden, sondern warum auch alle Warnsignale, die der spätere Täter mit seinem auffälligen Verhalten ausgesandt hatte, nicht Ernst genommen wurden.
Das sind beispielsweise die beiden Englisch-Dozentinnen Nikki Giovanni und Lucinda Roy. Giovanni informierte ihre Vorgesetzte Roy, dass sie eher ihren Job aufgeben, als den Südkoreaner weiter unterrichten wolle. Dessen Gedichte seien bedrohlich und Angst einflößend gewesen, sagte sie dem Nachrichtensender CNN. Als sie in den Nachrichten gehört habe, dass ein asiatisch-stämmiger Mann der Amokläufer sei, habe es für sie keine Frage mehr gegeben, dass Cho der Täter sei, sagt Giovanni.
Weil Giovanni das Verhalten des Südkoreaners nicht mehr ertragen wollte, schritt ihre Vorgesetzte Lucinda Roy ein. Roy gab Cho ein Semester lang Einzelunterricht und versuchte, an ihn heran zu kommen. "Ich habe nichts als Leere gespürt", sagt Roy. Der Südkoreaner sei so negativ gegenüber sich selbst gewesen. "Ich dachte, er könnte sich etwas zufügen, weil er sich so depressiv fühlte", sagt sie.
Roy ging zur Universitätsleitung, sie verständigte die Polizei. Die Antwort habe gelautet, dass man wegen der Meinungsfreiheit nichts gegen makabre Gedichte machen könne, erinnert sich Roy. Cho habe sich verteidigt, dass seine Werke reine Satire seien. Und die Polizei griff nach den Worten nicht ein, weil der Südkoreaner niemanden ausdrücklich bedrohte.
von Hans Dahne, dpa
Quelle: ntv.de