Familien der Geiseln Leben mit der Angst
23.03.2006, 12:46 UhrDas Bild gehört in Leipzig inzwischen zum Alltag: Vor der Nikolaikirche brennen tausende von Kerzen, dazwischen liegen Blumen, Plakate, Fotos. Touristen halten inne und fühlen mit den Leipzigern. Gedenken der zwei Irak-Geiseln Ren Bräunlich (32) und Thomas Nitzschke (28), die an diesem Freitag seit zwei Monaten verschleppt sind. Am 24. Januar wurden die beiden Angestellten der Firma Cryotec aus Bennewitz in der nordirakischen Stadt Baidschi entführt. Hunderte Menschen erinnern montags und donnerstags bei Mahnwachen an ihr Schicksal. "Das gibt Kraft", sagt Ingeborg Bräunlich, Mutter der älteren Geisel.
Die zierliche Bankangestellte kommt jeden Donnerstag zur Mahnwache an die Nikolaikirche, montags macht es ihr die Arbeit unmöglich. "Ich muss hierher kommen", sagt sie. "Es ist mir Bestätigung, dass die Menschen hinter mir stehen." Geduldig beantwortet sie Fragen von Journalisten. "Danke, dass sie gekommen sind", sagt sie zu Gisela Klinger und drückt fest ihre Hand. Die 65-Jährige kommt regelmäßig. "Ich leide so sehr mit. Ich wünsche der Familie von ganzem Herzen einen guten Ausgang", sagt sie mit Tränen in den Augen.
"Die Angehörigen erleben ein extremes Wechselbad der Emotionen zwischen Hoffen und Bangen. Für sie ist die Situation oftmals schlimmer als für die Geiseln", sagt Traumaexperte Georg Pieper. "Die Ungewissheit über diesen langen Zeitraum hinweg ist extrem belastend." Der Psychologe aus dem hessischen Gladenbach betreut seit den 80er Jahren Katastrophenopfer und hat deutsche Geisel-Opfer aus dem Libanon betreut. Bräunlichs Mutter macht es aus seiner Sicht richtig: "Ich sage den Betroffenen immer: bewegt Euch, engagiert Euch, redet."
Die Angehörigen von Thomas Nitzschke schotten sich weitgehend ab. "Dabei wollen wir zunächst auch bleiben", sagt Bruder Volker. Zwischenzeitlich hat sich auch Bräunlichs Lebensgefährtin, Sindy Brost, mehr zurückgezogen. "Ich bin von den anderen darum gebeten worden und halte mich gerne daran", sagt die Friseurin. Zugleich gilt es, den dreijährigen Sohn zu schützen. Er fragt immer öfter nach dem Vater. So lange wie diesmal war er noch nie weg.
Fast sechs Wochen liegt das letzte Lebenszeichen im arabischen Nachrichtensender Al-Arabija in Form einer Videobotschaft vom 11. Februar zurück. Der Krisenstab des Auswärtigen Amtes bemüht sich intensiv um eine Freilassung der Männer, heißt es in Berlin. Details werden nicht genannt. Staatsminister Gernot Erler (SPD) deutete Dienstag jedoch an, dass die beiden noch am Leben sind. Es gebe zumindest "keine Hinweise auf irgendeine Katastrophe".
In Leipzig gehen Freunde und Arbeitskollegen mit den Meldungen inzwischen vorsichtig um. "Ich will keine Euphorie aufkommen lassen", sagte Bräunlichs Fußball-Trainer Michael Herrn. Unmittelbar nach der Entführung hatte die Mannschaft des SV Grün-Weiß Miltitz ein Spiel abgesagt, inzwischen ist Alltag eingekehrt. "Ich passe auf, dass es nicht zu locker wird. Das würde mir nicht gefallen."
Ähnlich halten es die Arbeitskollegen. "Die Arbeit steht wieder im Vordergrund -aber wir nehmen uns jeden Tag eine halbe Stunde Zeit und setzen uns zusammen", sagt Prokuristin Karin Berndt. Die Mahnwache bleibt Pflicht. "Das Schicksal der beiden darf nicht in Vergessenheit geraten", sagt Berndt. Entsprechend groß ist die Freude über die Teilnahme von Unternehmen, Sportvereinen und Privatleuten an der Aktion mit den grünen Bändern, die Hoffnung symbolisieren soll.
Anlass dafür gibt es immer wieder: Nach der niederschmetternden Nachricht vor zwei Wochen über den Tod der amerikanischen Irak-Geisel Tom Fox wurden am Donnerstag drei Geiseln im Irak befreit: Es sind Friedensaktivisten, die im November vergangenen Jahres zusammen mit Fox verschleppt worden waren. Und so hoffen die Leipziger, dass die Glocken der Nikolaikirche möglichst bald zum Dankgottesdienst läuten. "Dafür beten wir, darauf hoffen wir", sagt Pfarrer Christian Führer.
Marion van der Kraats, dpa
Quelle: ntv.de