Dossier

Neues Rechenmodell Polen zählt die Toten mit

Mit einem ganz neuen Rechenmodell überrascht der polnische Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski im Ringen um das Stimmengewicht in der EU seine europäischen Partner: Auch die polnischen Bevölkerungsverluste im Zweiten Weltkrieg sollten einberechnet werden. "Wir verlangen nur, was uns genommen wurde", forderte er in einem Rundfunkinterview. "Wenn Polen nicht die Jahre 1939 bis 1945 durchgemacht hätte, hätte es heute eine Bevölkerung von 66 Millionen , wenn man demographische Kriterien anwendet."

Kaczynskis Landsleute dürften weitaus weniger überrascht über diese Argumentation sein - sowohl der Regierungschef wie auch sein Zwillingsbruder, Staatspräsident Lech Kaczynski führen eine Politik, die vor allem historisch bestimmt ist. Es war Jaroslaw Kaczynski, der vor drei Jahren, damals noch als Vorsitzender der größten Oppositionspartei, einen Parlamentsbeschluss initiierte, der die Regierung zu neuen Verhandlungen über deutsche Kriegsreparationen aufforderte. Lech Kaczynski, damals noch Oberbürgermeister von Warschau, listete zur gleichen Zeit die materiellen Schäden auf, die die polnische Hauptstadt durch die deutsche Besatzung erlitten hatte.

Das Geschichtsbewusstsein ist in Polen weitaus stärker ausgeprägt als etwa in Deutschland, und die Kaczynski-Brüder, deren Eltern beide im Widerstand gegen die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg waren, wuchsen mit den Erzählungen über das Leiden unter der deutschen Besatzung und den Widerstand der Polen auf.

Vieles in ihrer Einstellung zum deutschen Nachbarn dürfte dadurch beeinflusst sein, auch wenn die 58 Jahre alten Kaczynski-Zwillinge ebenso wie Bundeskanzlerin Angela Merkel der Nachkriegsgeneration angehören. Dass das demokratische Deutschland sich mit seiner dunklen Vergangenheit auseinandergesetzt und wiederholt die Verantwortung für die historischen Verbrechen betont hatte, vom Kniefall Willy Brandts vor dem Denkmal der Warschauer Ghetto-Kämpfer bis zu der Entschuldigung Gerhard Schröders für die deutschen Verbrechen am 60. Jahrestag des Warschauer Aufstands, bleibt dabei oft unberücksichtigt. Auch die Forderung, die deutsche Regierung solle per Gesetz Vertriebenen Entschädigungsklagen gegen Polen verwehren, ist mit dem latenten Misstrauen gegen Deutschland verbunden.

"Unermessliches Leid" habe Deutschland Polen zugefügt, betonte Jaroslaw Kaczynski nur wenige Tage vor dem Brüsseler Gipfel. In der Tat war die nationalsozialistische Besatzung in kaum einem anderen europäischen Land mit Ausnahme Russlands so brutal wie in Polen. Die Elite des Landes wurde gnadenlos ausgelöscht, Millionen als Zwangsarbeiter versklavt. Im besetzten Polen errichteten die Deutschen ihre Vernichtungslager, drei der sechs Millionen Opfer des Holocaust waren polnische Juden. Insgesamt verlor Polen im Zweiten Weltkrieg rund 20 Prozent seiner Bevölkerung, 6,5 Millionen Menschen.

"Wir wollen keine Ressentiments", versicherte Kaczynski. Doch die historische Erfahrung, nicht nur im Zweiten Weltkrieg, habe Polen gelehrt, "dass Schwäche dem Opfer nicht hilft". Auch ohne aktuelle Gefahr, wieder Opfer zu werden, strebt Polen deshalb Stärke in der EU an - notfalls auch mit historisch-demographischen Rechenspielen.

Von Eva Krafczyk, dpa

Quelle: ntv.de

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